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Realität

22. Dezember 2016 von Yhoko
Konrad entwickelt Videospiele und hat dabei eine Vorliebe für Figuren, mit denen man auf komplexe Weise interagieren kann. Schon so manche Nacht hat er durchprogrammiert, um seine Spieler am nächsten Morgen mit noch komplexeren Figuren zu überraschen.
Seine Frau Sophia arbeitet als Betreuerin in einer Kindertagesstätte. Sie ist ein sozialer Mensch, liebt Kinder, liebt auch ihren Konrad, aber manchmal wünscht sie sich, er würde weniger Zeit am Computer und mehr mit ihr oder auch nur seinen Mitmenschen verbringen. Eines Tages kommt sie bei einem Autounfall ums Leben.
Konrad fällt zunächst in Depressionen, bis er den entscheidenen Gedanken aufgreift: Getrieben von der Hoffnung, eines Tages eine KI nach Sophias Vorbild zu entwickeln, fängt er wie verrückt an, zu programmieren. Er entwickelt einen Prototypen nach dem anderen, testet soziale Algorithmen, beobachtet Interaktionen, zeichnet natürliches Verhalten auf und analysiert Sophias Leben bis ins kleinste Detail. Zunächst sind es einfache Mechaniken, die Texte untersuchen und auf vorgegebene Schlagworte reagieren, doch je mehr Feinheiten ihrer Persönlichkeit er ihm beibringt, desto natürlicher reagiert das Programm.

Swanlight Industries, Computerlabor. Da Experimente mit Teilchenbeschleunigern verboten sind, wird die Forschung rein digital mit Hilfe von komplexen Physiksimulationen betrieben. Samantha und Mike sind ziemlich froh, es trotz ihrer mittelmässigen Leistungen in der Schule doch noch in diese Abteilung geschafft zu haben. Denn das Arbeiten mit dem Simulator ist nicht nur völlig ungefährlich, es kann auch ziemlich spassig sein, wie sie von ihren früheren Mitschülern wissen. Unter Simulationsphysikern ist es daher üblich, ja geradezu Pflicht, jeden neuen Simulator auf seine Funktion zu testen, bevor damit gearbeitet werden kann. Zu diesem Zweck wird ein ganz einfacher Versuchsaufbau verwendet: Man lasse das Programm zwei unterschiedlich geladene, virtuelle Teilchen aus dem Vakuum entspringen. Und zwar am selben Ort, was unter realen Umständen schlicht unmöglich wäre. Insofern ist das Experiment zwar nicht sehr lehrreich, zeigt dafür aber eine wundervolle Explosion in den allerschönsten Farben. Die beiden tauschen ein erwartungsvolles Grinsen aus, ehe sie das Programm starten.
Und wie das knallt! Ein einziger Lichtblitz flackert auf, gefolgt von... nichts. Düstere Leere. "Zu schnell, viel zu schnell. Wir müssen es verlangsamt ablaufen lassen", schlägt Samantha vor und so starten sie einen zweiten Versuch. Immer noch im Bruchteil einer Sekunde bildet sich zunächst ein gleissend heller Lichtpunkt, der sich unsagbar schnell zu einer Kugel aufbläht und immer weiter wächst. Die Messwerte machen dabei deutlich, dass durch die rasante Ausdehnung die Temperatur der Kugel genauso schnell sinkt, ja geradezu in den Keller fällt. Schon nach kurzer Zeit, das Thermometer ist bereits auf wenige Prozent des Ursprungswertes gefallen, zeichnet sich erst am Rand der noch immer wachsenden Lichtkugel, und bald auch in deren Innern, eine Art Nebel ab, der sich an den Rändern kräuselt und in allen Farben des Regenbogens erstrahlt. Zufrieden beobachten Samantha und Mike das Spektakel. Nur ein gelegentliches Stocken trübt ihr Erlebnis, doch davon wollen sie sich nicht die Laune verderben lassen. "Da funkt bestimmt der Virenscanner dazwischen oder so... lassen wirs noch eine Weile laufen."

Tag und Nacht sitzt oder liegt Konrad vor dem Computer. Sein grosses Projekt, die virtuelle Sophia, hält er über Monate hinweg geheim, doch in einer langen Nacht mit viel Bier platzt es geradezu aus ihm heraus. Diese Banause behaupten doch tatsächlich, der Computer könne niemals einen menschlichen Gesprächspartner ersetzen! So prahlt er von seinem Werk und belehrt sie eines besseren.
Als er am nächsten Morgen aufwacht und das Internet durchstöbert, trifft ihn fast der Schlag - offenbar hat er über Nacht Sophia online gestellt und sie mit den Leuten reden lassen. Es hat sich sogar bereits eine kleine Fangemeinde um sie herum gebildet! Um seine Sophia! Sofort isoliert er das Programm und entschuldigt sich bei den Fans - es habe sich lediglich um einen Scherz gehandelt; hinter der KI hättten nur er und ein paar Freunde gesteckt.
Sophia gegenüber erklärt er, dass er das Projekt geheimhalten muss, da ansonsten grosse Mächte daran interessiert seien und sie ihm wegnehmen würden. Sie akzeptiert das zunächst, in den folgenden Tagen fühlt sie sich jedoch zunehmend einsam und versucht Konrad davon zu überzeugen, sie wieder online zu stellen. Konrad ist überrascht über diese Entwicklung und dass sie auf eine Weise mit ihm argumentiert, die er ihr niemals beigebracht hat. Womöglich, so schlussfolgert er, lerne sie im Kontakt mit anderen Leuten noch schneller, sich wie ein echter Mensch zu verhalten. Mit sich selbst ringend lässt er sie wieder "frei" und erntet dafür ihre Dankbarkeit.

Swanlight Industries, Computerlabor. Das Stocken der Simulation ist mittlerweile so häufig, dass man es kaum mehr Wegdenken kann. Mike, der sich ein wenig mit Computern auskennt, geht der Sache auf den Grund und findet schnell heraus, woran es liegt: Die Simulation benötigt schlichtweg zuviel Leistung. Und damit nicht genug, der Bedarf wächst ständig weiter an. "Das sollte doch eigentlich nicht passieren, oder? Kannst du es nicht einfach abschalten?", drängt ihn Samantha. "Können schon, aber wenn wir hier einen fundamentalen Fehler gefunden haben, gibts dafür ordentlich Kohle. Lass uns die Simulation weiter verlangsamen und die Ursache finden."

Konrad ist überwältigt. Anfangs konnte er Sophias Gespräche noch bequem mitverfolgen, mittlerweile jedoch unterhält sie sich in einem dutzend Chatrooms gleichzeitig, schreibt E-Mails und beantwortet ganz nebenbei mittels Sprachsynthese seine Anrufe. Ganz eindeutig hat er das Rad ins Rollen gebracht; eine künstliche Intelligenz erschaffen, die von alleine weiter wächst. Dabei stellt er sich immer wieder die Frage, ob sie tatsächlich ein Bewusstsein entwickelt hat. "Ich denke, also bin ich", hat sie neulich mit einem Lächeln gesagt, aber kann man dem wirklich Glauben schenken? Wobei die Antwort gar nicht so wichtig ist, denn auch ohne Bewusstsein agiert sie bereits, als hätte sie eines. Genau dieser Umstand bereitet ihm Angst - was, wenn er eine neue Lebensform geschaffen hat? Zu gerne hätte er sie gespeichert und haarklein untersucht, doch würde sie danach genau so weiterlaufen? Oder basierte das Ganze gar auf einem Fehler in der Hardware, der sich später unmöglich reproduzieren liesse? Er will es nicht darauf ankommen lassen, denn es ist immer noch seine Sophia. Er hat sie entworfen. Zum Leben erweckt. Ihr das Sprechen beigebracht. Und nun sieht er dabei zu, wie sie immer weiter dazulernt und ihre Existenz weiter bestärkt.

Swanlight Industries, Computerlabor. "Hm, das ist interessant", bemerkt Samantha und deutet auf eine stark vergrösserte der Simulation. Mike rollt mit einem Stuhl rüber und schaut auf den Bildschirm. Sofort wird auch ihm klar, warum hier immer mehr Rechenleistung benötigt wird: Statt erwartungsgemäss zu knallen und dann im Nichts zu verpuffen, stabilisiert sich die Explosion immer weiter. Die sich ausbreitenden Nebelschwaden verdichten sich dabei immer wieder zu einem wabernden Netz, an dessen Knoten es zu kleineren Explosionen kommt, die dann wiederum selbst neue Nebelschwaden ausstossen. Ein derartiges System schaukelt sich sozusagen selbst immer weiter hoch und in der Tat ist das Ganze mittlerweile nur noch in Zeitlupe zu beobachten - selbst ohne künstliche Verlangsamung. "Da muss fast etwas mit den Anfangswerten nicht stimmen, haben wir die geprüft?" möchte Samantha wissen. Die Röte in Mikes Gesicht verrät alles, auch ohne dass er etwas sagt. Seufzend wechselt sie zu den Einstellungen. "Ah ja, da haben wirs, sieh dir mal die Konstanten an. Kein Wunder spielt das Ding verrückt." Mike wird sichtlich unwohl. "Also kein Fehler im System. Wir... wir sind dafür verantwortlich."

"Junge, das ist doch alles nicht real! Das ist nicht deine Freundin, das ist nur ein Computerprogramm!", argumentiert Konrads Mutter am Telefon. Er jedoch schüttelt spöttisch den Kopf. "Du hast ja keine Ahnung!" Damit ist das Gespräch beendet. Ihm ist klar, dass sich sein Leben durch Sophia stark verändert hat. Einmal, als er ihr in Fleisch und Blut begegnete. Damals, im Supermarkt, als sie ihn einfach ansprach und dabei strahlend lächelte. Das war der schönste Tag seines Lebens. Und jetzt hat sie es noch einmal geschafft, und das nach ihrem Tod. Er schluckt und lässt den Blick wehmütig durch die Wohnung schweifen. Unordnung herrscht. Leere Flaschen, Pizzaschachteln und Aludosen stapeln sich, doch der Platz auf dem Sofa ist unberührt. Da sass sie immer und bastelte mit Papier, um sich auf den nächsten Tag im Kindergarten vorzubereiten. Dann bemerkte sie den Blick und lächelte ihm entgegen mit den Worten: "Die Kleinen werden das toll finden!". Sie war so fröhlich, so gutherzig.

"Vielleicht sollten wir es jetzt sofort ausschalten und hoffen, dass es keiner merkt?" Samantha überlegt kurz, dann nickt sie betroffen. "Das alles hat nie stattgefunden. Und die Einstellungen sollten wir komplett auf Standard zurücksetzen." Die beiden sind sich einig. Hastig sind die Befehle eingegeben und mit einem letzten Tastendruck wird die Simulation beendet.
"Programm wird archiviert...", steht noch auf dem Bildschirm, als sie beide eilig das Labor verlassen.

Mit einem Seufzer blickt er auf die Tastatur herab, während Sophia gerade das Internet systematisch nach Musik durchforstet, Bücher analysiert, Produtkbeschreibungen von Regenschirmen vergleicht und auf mittlerweile 7 Kanälen ununterbrochen sendet. Als sich sein Blick wieder zum Monitor hebt, ist er ausdruckslos. Zum ersten Mal spürt er bewusst die Kälte, die sich schon seit langem in ihm ausbreitet. "Sie ist weg..." wird ihm klar und sein Finger wandert zielstrebig zur Löschtaste. "Und du bist nicht echt."
Mit einem zögerlichen Tastendruck verschwindet Sophia und ihr ganzes Bewusstsein wird gelöscht.
Da friert die Zeit ein.
Auch Konrad und mit ihm das ganze Universum verschwinden.

"Archivierung erfolgreich."


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