Mechelon - Tränen der Vergangenheit (3)
Fast 40 Stunden haben sie gewartet. Gewartet, dass die Gefahr sich zurückzieht. Erst dann haben sie den erneuten Vorstoss gewagt. Simmon und Joshua befanden sich nun wieder in der Biegung, wo sie angegriffen worden waren. Ihren Begleiter und Freund Timmez mussten sie zurücklassen, inmitten von Feinden. Der Flur sah wie ein Schlachtfeld aus; Überall an den Wänden klebte Blut, eine rote Tapete, die im flackernden Licht wie ein abstraktes Kunstwerk eines wahnsinnigen Künstlers wirkte. Man konnte deutlich die Blutlache ausmachen, in der Timmez kniete, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatten. Doch er war nicht da, keine Spur von seiner Leiche. "Sie müssen ihn mitgenommen haben, diese Bastarde!" Simmon konnte seine Wut über diese Schändung kaum im Zaum halten. "Warum er? Warum Timmez?" Er erwartete keine Antwort von seinem Begleiter und er bekam auch keine. Er hatte die Frage an sich selbst gerichtet, er fragte sich, warum er selbst bisher fast vollkommen unbeschadet war während seine Freunde - inzwischen bezeichnete er selbst den Mutanten an seiner Seite als Freund, den Jemand anderen hatte er nicht mehr - schwer verwundet oder tot waren. Er schluckte seine Sorgen runter und wies Joshua an weiter zu gehen.
Kurz darauf traten sie wieder einmal in komplette Finsternis, denn die Beleuchtung des Flures, welche sowieso eher an die speziellen Beleuchtungseffekte in Horrorfilmen erinnerte, als an eine ordentliche Flurbeleuchtung, war auf etwa 50 Meter beschränkt. Diese Dunkelheit wäre für einen Hinterhalt ideal. Würden sie hier angegriffen werden, so wären sie tot, bevor sie es richtig merken würden. Doch zu ihrer Erleichterung griff sie niemand an. Sie durchquerten die Finsternis des Flures und traten nach zwei weiteren Abzweigungen in einen hell beleuchteten Raum. Es schien eine Art Büro zu sein, denn an den Wänden standen Aktenschränke und auf dem Schreibtisch war ein kompletter Bildschirmarbeitsplatz eingerichtet. Der Monitor war jedoch zerstört worden, so dass es wenig Sinn machte auf dem Computer nach Daten zu suchen. Sie wären aber sowieso nicht auf die Idee gekommen sich lange hier aufzuhalten, denn inzwischen wussten sie definitiv, dass irgendwo in diesem Gebäude noch andere Mutanten ihr Unwesen trieben, und zwar nicht unbedingt wenige! "Schau, hier!" Joshua hatte etwas entdeckt. Auf dem Schreibtisch, unter einem Stapel Blättern mit mathematischen Berechnungen und Formeln der Physik lugte ein Teil einer Grundrisszeichnung hervor. Simmon stiess die darauf liegenden Blätter zu Boden, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen. Er hatte hier gerade das vielleicht wichtigste Dokument seines Lebens vor den Augen. "Yeah, endlich mal eine gute Nachricht!" Simmon strahlte fast über das ganze Gesicht, was eine vollkommen neue Regung in ihm war, denn er war immer eher der Pessimist, im besten Falle Realist, nie aber der grosse Optimist gewesen. Doch diese Entdeckung gab ihm Hoffnung, eine Menge Hoffnung. Sie hatten die Grundrisszeichnung der Forschungsanlage gefunden, in der sie sich befanden und schon viel zu lange umherirrten. Er blätterte die Seiten durch, es waren mehrere Din A3 grosse Bögen. "Wo ist dieser verfickte Sektor F? Und wo sind wir?" Ihren eigenen Standort hatte er relativ zügig ausgemacht, zu charakteristisch war die Anordnung der Flurbiegungen auf dem Weg hierher gewesen. Doch bevor er ihn gefunden hatte, fluchte er laut: "Scheisse, warum können diese Idioten auch keine Markierungen auf den Fluren und Trakten anbringen? Soll man sich hier verlaufen?"
Er war sich fast sicher, dass das Fehlen jeglicher offensichtlicher Kennzeichnungen der Abschnitte des Bunkers genau diesem Zweck diente. Wer hier gearbeitet hat, der wusste, wo er sich befand und kannte den Weg zu seinem Arbeitsplatz. Mehr sollte wahrscheinlich keiner wissen. Auch war es mit Sicherheit eine Schutzmassnahme, für den Fall, dass diese Anlage durch einen feindlichen Angriff gestürmt werden würde. Die Feinde würden sich verirren, unkoordiniert durch die Gänge streifen, während die eigenen Leute sich bestens auskannten. Er hatte Sektor F immer noch nicht gefunden. Auf dem vorletzten Blatt dann endlich: "Ich hab ihn. Hier ist er! Aber wie kommen wir dahin?" Die Karte war in einzelne Abschnitte unterteilt, jeder Abschnitt ein Papierbogen. Er musste also die Bögen anhand der Randbeschriftungen aneinander legen, um den Weg von ihrem derzeitigen Standort bis hin zum Sektor F auszumachen. Als er die Abschnitte also allesamt zusammengefügt hatte, erschrak er über das Ergebnis des Gesamtbildes, welches sich ihnen zeigte.
"Fuck, der Komplex erstreckt sich ja über die ganze Stadt! Eine unterirdische Stadt, unterhalb der eigentlichen Stadt. Krank... Wer baut so Etwas denn?" "Menschen." Sagte Joshua kurz und trocken. "Einfache Menschen. Es liegt in ihrer Natur das Extreme zu tun." "Du hast recht, warum hab ich bloss gefragt?" Simmon widmete sich wieder der Karte zu. Das Gebäude in dem sie sich befanden war in der Tat über die gesamte Fläche der Stadt erbaut, wobei durch die Anordnung der Flure und Räume aber weitaus weniger Fläche wirklich genutzt wurde. Dennoch blieb es ein beeindruckendes Bauwerk, dessen Konstruktion Simmon sicher bewundert hätte, wenn er nicht zur Zeit gerade in diesem Höllenloch gefangen wäre.
"Wie weit ist es?" "Die halbe Strecke haben wir hinter uns, die andere Hälfte liegt vor uns!" Antwortete Simmon wahrheitsgemäss. "Dann haben wir keine Zeit zu verlieren, denn selbst ohne Zwischenfälle, wie dem vor zwei Tagen, bräuchten wir einige Zeit um dorthin zu gelangen. Und ich persönlich will hier so schnell wie möglich raus, ich bin schon viel zu lange hier unten." "Du sagst es, lass uns sofort weiterziehen!" Mit diesen Worten packte Simmon die benötigten Blätter des Gebäudeplanes ein und sie verliessen den Raum.
Simmon hatte sich die ersten beiden Abschnitte, die sie durchqueren müssten eingeprägt, so kamen sie recht zügig voran. Der erste Tag verlief ohne Zwischenfälle, doch bereits am Morgen des zweiten vernahmen sie aus der Ferne die ihnen bereits bekannten Geräusche der Mutanten. Sie kamen genau aus der Richtung, in die sie hätten gehen müssen, wenn sie auf dem direkten Weg zum Sektor F gelangen wollten. Sie entschieden sich aber dafür, die Konfrontation mit diesen Kreaturen zu vermeiden, die letzte Begegnung hatte ihnen gereicht. Sie liessen sich also kurz in einem abgelegenen Raum nieder um eine alternative Route herauszusuchen. "Wenn wir hier links, dann dort rechts... aha... Zweite Biegung erneut rechts..." Simmon fuhr mit dem Finger über die Pläne, während er vor sich hinredete. "Dann links in Sektor D... Ja..." Nach einigen Minuten hatte Simmon sich die Umleitung eingeprägt und sie setzen ihren Weg fort. "Der Umweg kostet uns in etwa fünf Stunden, aber lieber fünf Stunden länger auf die Freiheit warten, als hier unten sterben." Diesen Worten hatte Joshua nichts entgegenzusetzen, denn sie spiegelten seine eigene Meinung nahezu perfekt wieder.
Nach etwa sieben Stunden Fussmarsch und einigen kurzen Pausen, vernahmen sie erneut Geräusche. Doch bevor sie die Quelle der Geräusche ausmachen konnten und überhaupt richtig wahrnehmen konnten, was sie da hörten, spürte Simmon einen Schlag auf seinen Hinterkopf und sein Blickfeld schwärzte sich. Sie waren in einen Hinterhalt geraten. Bei all ihrer vorsichtigen Vorgehensweise waren sie in einen Hinterhalt geraten. Es musste die Art der Geräusche gewesen sein, die sie unvorsichtig werden liess, denn es waren nicht die lauten und stöhnende Laute von Mutanten, es waren Geräusche von eindeutig menschlicher Herkunft!
Als Simmon langsam wieder zu sich kam, erblickte er schemenhafte Gestalten um sich herum und konnte Bruchstücke von Worten wahrnehmen. "Er wacht auf." "Passt auf, vielleicht ist er gefährlich, immerhin war er in Begleitung dieses Monsters".
Joshua, Simmons erster Gedanke galt Joshua. Das Monster von dem sie sprachen war sein mutierter Freund. Was haben sie mit ihm gemacht? Sein Blickfeld wurde klarer und er sah, dass er sich inmitten von etwa 20 Menschen befand und einige Waffen auf ihn gerichtet waren.
"Freund oder Feind?" Fragte ihn eine dunkle Männerstimme. "Was... Wo bin ich?" Simmon musste sich erst einmal sammeln. "Beantworte die Frage. Bist du ein Freund oder ein Feind?" "Im Zweifel bin ich euer Freund!" Simmon kannte diese Personen nicht, wie konnte er da sagen, ob sie auf der selben Seite standen? "Das will ich dir auch geraten haben, denn sonst wärst du jetzt tot! Aber auch so werde ich dich im Auge behalten Bursche." Simmon der nicht damit umgehen konnte, wenn ihn jemand von oben herab behandelte, griff instinktiv an seinen Gürtel um seinen Dolch zu ziehen. "Brauchst gar nicht danach suchen, wir haben dir alle Waffen abgenommen. Man weiss ja nie, auf was für Ideen ihr Freaks sonst noch kommen würdet." Simmon gefiel die Situation überhaupt nicht. Noch viel weniger gefiel ihm der Umstand, dass er Joshua nicht entdecken konnte. "Was habt ihr mit ihm gemacht?" Fragte er deswegen in schroffem Ton. "Mit ihm? Deinem Mutantenfreund? Er lebt, falls du das meinst. Ich weiss aber nicht, ob das noch lange so bleiben wird. Das hängt ganz von dir ab!" "Wie meinst du das?" "Naja, ich will es mal so sagen: Du hasst fünf Minuten Zeit mich davon zu überzeugen, dass von euch und besonders von ihm keine Gefahr für uns ausgeht. Dann schaffe ich es vielleicht noch, meine Kameraden dazu zu überreden, ihre Pläne betreffend seines Todes zu verhindern."
Simmon berichtete kurz und knapp, was bisher geschehen war. Zwar benötigte er bedeutend mehr als fünf Minuten und liess einige Informationen aus (Von dem Ausgang berichtete er nichts), aber sein Gegenüber schien ihm zu glauben. "Und nun will ich Joshua sehen!" Beendete Er seinen Bericht. "Okay, okay, ich werde dich zu ihm führen."
Ein kleiner Trupp aus vier bewaffneten Männern begleitete sie in einen Nebenraum. Was Simmon da sah war nicht das erhoffte Bild: Joshua lag zusammengekauert am Boden, während um ihn herum mehrere Männer und Frauen standen und ihm gelegentlich in die Rippen traten oder auf ihn spuckten. "Hört auf!" Befahl der Mann, der Simmon nach dem Erwachen angesprochen hatte. Die Leute folgten seinem Aufruf sofort. Joshua war mit Metallringen am Boden festgekettet worden, er konnte sich kaum bewegen. Seine Augen waren mit Tränen gefüllt und er spuckte Blut. Sein Zustand war nicht gerade als gut zu bezeichnen. Doch Simmon hatte gesehen, wie schnell die Regeneration bei diesen Mutanten vor sich ging, so dass er sich keine Sorgen um das Überleben seines Kameraden machte. "Ich bin übrigens Franky." Stellte sich der Mann, welcher hier anscheinend einigen Einfluss hatte, nun endlich auch vor. "Simmon, und der Kerl, den ihr hier so übel zugerichtet habt, ist Joshua." "Was hast du erwartet? Verstehst du nicht, dass wir misstrauisch waren? Hast du eine Ahnung, wie viele von den Leuten hier, durch Angriffe von solchen Viechern, wie deinem Freund hier, geliebte Menschen verloren haben? Sie hassen diese Wesen und ich würde sagen, zu recht!" "Aber Josh ist anders! Er hat niemandem etwas getan!" "Er ist am Leben, was willst du mehr?" Franky hatte keine Lust sich zu rechtfertigen, erst recht nicht vor einem dahergelaufenen Typen und seinem Mutantenfreund.
"Simmon... Lass gut sein, mir fehlt nichts" Es war Joshua, der da leise sprach. Die Männer befreiten ihn und er setzte sich auf. Zum vollkommenen Aufstehen fehlte ihm noch die Kraft, so setzte er sich an die Wand gelehnt hin und Simmon leistete ihm Gesellschaft.
"Ich werde eine Versammlung einberufen, dort werden wir dann entscheiden, wie wir weiter mit euch verfahren. Ich erwarte euch in 15 Minuten bei den anderen!" Franky gab einem seiner Leute Anweisungen und die Leute verschwanden, bis auf die vier bewaffneten Männer, die Simmon schon hergeführt hatten. Eine viertel Stunde später forderten die Männer die beiden auf sie zu begleiten. Sie folgten den Männern in einen grossen Raum, der wohl mal ein Mannschaftslager gewesen sein musste. Dort waren einige Stühle den Wänden entlang aufgereiht und am Kopfende des Raumes befanden sich ebenfalls drei Stühle. "Stellt euch bitte hier auf." Franky wies auf einen Platz in der Mitte des Raumes. "Es geht gleich los." Wie auf Kommando strömten die Leute in den Raum und nahmen auf den Stühlen Platz. Franky selbst besetzte den Platz in der Mitte der drei Stühle in ihrer Front. Links und rechts neben ihm setzten sich ein älterer Mann und eine junge Frau. Simmon blickte sich im Raum um, es waren an die vierzig Personen hier, etwas über die Hälfte davon Männer.
"Ich eröffne nun hiermit die Anhörung." Der ältere Mann zu Frankys Rechten ergriff das Wort, die Unruhe im Raum verstummte sofort. "Diese beiden Personen hier, sind heute unerlaubt in unser Territorium eingedrungen. Nun gilt es zu ratschlagen, was mit ihnen geschehen soll." Nun wandte er das Wort direkt an Simmon: "Simmon, so ist doch dein Name. Franky hat mir berichtet, was du ihm erzählt hast. Nun gut, ob es die Wahrheit ist, sei mal dahingestellt, doch für den Moment möchte ich dir glauben." "Hat irgendjemand Einwände, wenn wir die beiden unter Bewachung hier behalten?" Die Frau zur Linken von Franky stellte diese Frage an sämtliche Personen im Raum. Einige Leute brachten Einwände hervor, wie den, dass Mutanten nicht zu trauen sei. Wie um zu beweisen, dass er sich von seinen Artgenossen unterscheidet, warf Joshua dazwischen: "Ich bin nicht wie sie, ich bin nicht euer Feind!" Die Menge blickte ihn verwundert an. "Es kann sprechen." Brachte schliesslich einer von ihnen hervor. "Na und? Es kann bestimmt ebenso gut töten." Erwiderte ein anderer. "Schweigt!" Franky machte dem Gemurmel ein Ende. "Du kannst also sprechen. Nun denn, Simmon hat mir von dir erzählt, und wie du sein Leben gerettet hast. Ich traue dir nicht, ganz gewiss, doch du scheinst echt anders zu sein, als die Mutanten denen wir bisher begegnet sind. Was hast du selbst zu sagen? Jetzt wo du doch bereits unerlaubt gesprochen hast." Joshua überlegte kurz, ob er dieser Arroganz nicht einfach mit der Gewalt begegnen sollte, die sie alle von ihm erwarteten, doch er riss sich zusammen. Letztendlich war es der Blick von Simmon, der ihn davon abhielt einfach auszurasten. "Ich bin ein Mutant, ja! Doch ich bin nicht euer Feind! Ausserdem waren es Menschen, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin. Sind deswegen jetzt alle Menschen bösartig? Nein! Genauso muss nicht jeder Mutant zwangsläufig bösartig sein!"
"Und wieso bist du nicht wie die anderen?" Die Frau an Frankys Seite fragte ihn offen und blickte ihm genau in seine dunklen Augen. "Sie haben es nicht geschafft... Sie wollten mich genauso machen, doch sie haben es nicht geschafft. Ich bin mir sicher, mit euch hatten sie das gleiche vor, oder seid ihr zum Spass hier unten?" "Du hast nicht das Recht unsere Motive in Frage zu stellen, aber du sprichst dennoch Wahrheit. Nun gut, belassen wir es für den Moment dabei." Franky, die Frau und der ältere Mann steckten ihre Köpfe zusammen und flüsterten. Nach einigen Minuten verkündete Franky: "Wir haben uns entschieden. Ihr könnt bei uns bleiben, ihr müsst bei uns bleiben! Wir werden euch nicht die Freiheiten zugestehen, wie sie andere hier geniessen, doch betrachtet euch dennoch als unsere Gäste, nicht Gefangene. Zorax hier wird euch euer Quartier zuweisen. Die Sitzung ist damit beendet."
Zorax, so schien der Name der Frau zu sein, die mit den beiden Männern zusammen hier die Entscheidungsgewalt besitzt. Sie kam auf Simmon zu und ihre Blicke kreuzten sich. Irgendetwas wurde bei dem Anblick dieser Frau in Simmon wach. Ein vergessen geglaubtes Gefühl; Verlangen. Sie begleitete sie in ihr Quartier und wies zwei Männer an, vor der Tür Wache zu halten. Simmon hatte sowieso nicht gedacht, dass sie sie unbewacht lassen würden. Zu seiner Verwunderung aber, folgte Zorax ihnen in ihre Räumlichkeiten.
"Verzeiht unser Misstrauen. Aber wir haben viel durchgemacht innerhalb der letzten Zeit. Mein Vater und mein Bruder haben diesen Menschen etwas Hoffnung gegeben." "Dann ist Franky dein Bruder und dieser alte Mann dein Vater?" Simmon war über diese Information überrascht. "Ja so ist es." "Wie kommt es, dass eine komplette Familie hier unten ist? Habt ihr hier gearbeitet?" "Nein, ganz sicher nicht! Es beleidigt mich, dass du annimmst ich hätte etwas mit dem Grauen hier zu tun. Wir sind hierher geschleppt worden. Man hat unsere Wohnung überfallen und uns entführt. Dein Freund hat recht, wenn er annimmt, dass man uns das gleiche antun wollte, was ihm widerfahren ist." "Aber sie haben es nicht... Wie konntet ihr entkommen, wie konntet ihr überleben?" Wenn er sie ansah, ihr in ihre tiefblauen Augen schaute, war es wieder da, dieses Verlangen. Sie erinnerte ihn an die einzige Liebe seines Lebens. Damals, als er noch nicht ganz so abgestumpft und brutal in seiner Art war. Sie hatte nicht einmal wirkliche Ähnlichkeit mit Sarah, der Frau, der er damals ewige Treue geschworen hatte, doch sie erinnerte ihn an sie. Vielleicht war es ihre Gestik, vielleicht ihr Geruch, vielleicht ihr Blick, ihre Art zu sprechen... Vielleicht war es aber auch einfach die Tatsache, dass er in ihrer Nähe Verlangen verspürte. Dieses Gefühl, dass er seit dem Tod seiner Geliebten nicht mehr vernommen hatte.
"Die Explosion im Reaktor," riss sie ihn aus seinen Gedanken "das waren wir! Als sie Franky wieder einmal Elektroschocks verpassen wollten, hat er sich wehren können. Er hat seinen Peinigern selbst eine Schocktherapie verpasst. Dabei hat er die Maschine so sehr überlastet, dass der Reaktor nicht mehr hinterherkam." "Franky war das?" Simmon war erstaunt. "Wieso hat er das getan, es hätte sein Tod sein können, er konnte nicht wissen, dass der Reaktor detoniert." "Nein das konnte er nicht. Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn töten würden, für seine Gegenwehr, doch er wollte sich einfach nicht weiter quälen lassen. Dass es so gekommen ist, wie es kam, war ein glücklicher Zufall." "Du bezeichnest den Umstand, dass eine Horde Mutanten aus ihren Gefängnissen entkommen konnte als Glück?" "Nein das tue ich nicht! Du beleidigst mich schon wieder. Ich bezeichne lediglich die Kette von Ereignissen, die dazu geführt hat, dass wir noch immer am Leben sind, als Glück!"
Er sagte es ihr nicht, aber stillschweigend gab er ihr recht. "Nun muss ich aber auch wieder, mein Bruder macht sich sonst Sorgen oder wird misstrauisch, was beides nicht zu euren Gunsten verlaufen würde." Sie ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Doch das brauchte sie auch gar nicht, Simmon sah ihre Augen dennoch vor sich.
Joshua und auch Simmon waren erschöpft. Sie redeten noch eine kleine Weile über die neue Situation und wie es nun weitergehen würde, doch dann fielen ihnen die Augen zu.
Simmon träumte von Sarah, lange Zeit hatte er das nicht mehr getan. Doch der Anblick von Zorax rief ihm diese Traumbilder zurück ins Bewusstsein. In seiner Fantasie waren sie beide wieder am Beginn ihrer Liebe, einer Zeit, in der zwar um sie herum der Krieg schon tobte, doch ihnen dieser Umstand egal war. Er verschmolz vollständig mit seinem Traum.
"Liebling, schau mal!" Er rannte zu seiner Geliebten Sarah hin. Was wollte sie ihm zeigen? "Was ist denn mein Engel?" "Dort..." Er blickte in die Richtung, in die sie zeigte und sah einen herrlichen Sonnenuntergang über der Fassade der Stadt. Schon immer hatte sie ihre Freuden an den einfachen Dingen im Leben. Ein klarer Sternenhimmel bei Nacht, das Farbspiel der Wolken, wenn sie in abendliches Sonnenlicht getaucht wurden, der bewegende Wellengang am Meer, verbunden mit seinem Rauschen - Dies waren Dinge, die sie lächeln liessen. Und was für ein Prachtlächeln sie hatte. "Das ist wirklich wunderschön!" Bestätigte er seine fröhlich aufgebrachte Herzensdame. Er hatte zwar nie den Blick für solche Dinge gehabt, doch wenn sie ihn mit ihrem strahlenden Blick auf so etwas aufmerksam machte, dann erkannte er die Schönheit in diesen Dingen. Ja, damals war er noch nicht so abgestumpft. Er hatte nicht nur weitaus mehr Menschlichkeit in sich als nun, nein er hatte sogar ein riesiges Stück eines liebenden Herzens in seiner Brust!
Die wunderschönen Momente mit ihr wird er niemals vergessen. Doch verdrängt, dass hatte er sie eine ganze Zeit. Verwunderlich für Simmon ist es, dass diese Erinnerungen, diese Träume ihm dieses Mal gar keinen Schmerz zufügen. Im Gegenteil, diese Gedanken sind eine Befreiung für seine Seele. Einige Stunden gleitete er im Traum durch seine Erinnerungen und erlebte die schönsten Momente seines Lebens erneut. Doch dann schlich sich schlagartig Zorax in seinen Traum. Die Szenen, in denen er seine Sarah im Arm hielt und sie fest an sich drückte; Auf einmal hatte sie Zorax Gesicht.
Schweissgebadet erwachte er und blickte sich um. Joshua schlief noch fest, er stöhnte im Schlaf. Seine Wunden machten ihm wohl doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte. Simmon sammelte seine Gedanken. Wieso träumte er von Zorax? Er hatte geschworen nie wieder einen emotionalen Draht zu einer Frau zu haben. Und diese Frau kannte er nicht einmal. Dennoch hatte er sie im Traum im Arm gehalten. Sie hatte den Platz seiner Sarah eingenommen, wenn auch nur in seinen unterbewussten Schlaffantasien. Er verdrängte den Gedanken, besiegte den Schrecken in sich, zumindest für diese Nacht. Der Rest der Nacht verging traum- aber nicht schlaflos. Am nächsten Morgen wurden sie beide von den Wachen geweckt. "Aufstehen, es gibt Frühstück!" Die beiden rieben sich den Schlaf aus den Augen und starrten in fies schauende Gesichter. Die Wachen begegneten ihnen mit einer grossen Distanz und Feindseeligkeit. Simmon konnte es ihnen nicht verübeln.
Beim Frühstück in der Halle, welche am Tag zuvor für die "Verhandlung" verwendet worden war, schaute sie keiner direkt an, doch sie spürten die Blicke auf sich liegen. An einigen Tischen wurde getuschelt und sie waren sich sicher Inhalt dieser Lästergespräche zu sein. Sie fühlten sich beide nicht wohl, liessen sich aber nichts anmerken. Während des gesamten Essens sprach keiner ein Wort mit ihnen. Der Tag verlief ruhig. Das gleiche Szenario wie beim morgendlichen Frühstück wiederholte sich auch beim Mittagessen; Keiner sprach mir ihnen, alle mieden den Kontakt. So verbrachten sie die Zeit zwischen den Mahlzeiten in ihrem Schlafgemach und schmiedeten Pläne, wie sie denn nun entweder aus dieser Gefangenschaft entkommen könnten, oder aber diese Menschen davon überzeugen könnten, dass sie gemeinsam aufbrechen würden, den Ausgang aus diesem Bunker zu finden. Etwa eine Stunde nach dem abendlichen Essen dann, kam Zorax zu ihnen. Sie wirkte irgendwie aufgewühlt. Man sah, dass kurz zuvor eine Träne ihre Wange heruntergekullert sein musste, nur oberflächlich weggewischt, glitzerte die Haut immer noch in der Spur, die sie geflossen war. Simmon wusste nicht, wie er reagieren sollte, so bat er sie bloss sich zu setzen. Nach einigen endlos erscheinenden Minuten der Stille begann sie zu reden:
"Ich weiss nicht, was es ist. Ich weiss nicht warum es so ist..." Sie schluchzte. "Warum was so ist?" Simmon bemühte sich freundlich zu klingen und die Überraschung aus seiner Stimme zu nehmen. Die Überraschung darüber, dass sie mit ihren scheinbaren Sorgen ausgerechnet zu ihnen kam. "Warum du mich so an ihn erinnerst. Ich kenne dich nicht, weiss eigentlich nichts über dich, und doch erinnerst du mich auf eine merkwürdige Art so sehr an ihn." An wen? Simmon stellte sich selbst diese Frage und sie wiederhallte in seinem Schädel endlos, doch er sprach sie nicht aus. Er war der Meinung sie würde schon erzählen, was sie meint erzählen zu müssen. Eigentlich hätte er Zweifel haben müssen und Misstrauen, denn diese Aktion könnte ja genauso gut ein hinterhältiger Plan sein, um herauszufinden, wie er denkt, wer er ist. Aber er war nicht misstrauisch. Er fühlte sich dieser fremden Frau, die da schluchzend auf der Kante seines Bettes sass so sonderbar vertraut. Da war es wieder; Das Bild aus seinem Traum. Jenes Bild, in dem seine Sarah ihr Gesicht trug. Jenes Bild, in dem er Zorax ganz nah war, körperlich, aber auch auf Ebene der Gefühle. Jenes Bild, dass mehr wiederspiegelte als bloss angestautes Verlangen. Sehnsucht... Dieses Bild in seinem Kopf strahlte Sehnsucht aus.
Während er diese Gedanken hatte, hatte sie bereits weitergesprochen. Sie hatte nicht bemerkt, dass er abwesend war und er hatte ihre Worte nicht wahrgenommen. Doch aus dem was er sich anhand ihrer folgenden Sätze zusammenreimen konnte, berichtete sie über ihre Vergangenheit und über den Mann, an den sie Simmon so erinnerte. Es schien ihr Ehemann gewesen zu sein, in einer Zeit, in der sie noch nicht so mit dem Krieg und seiner Grausamkeit in Berührung gekommen waren. Sie hatte diesen Mann geliebt. Simmon erschrak, als er bemerkte, wie ähnlich sich die Situation, der innere Konflikt, der beiden war. Beide fühlten sich verbunden mit dem jeweils anderen, beide fühlten sich durch den anderen an verlorenen Liebe erinnert. Gerade als er dies verinnerlicht hatte, blockte sie ab: "Ich sollte nicht hier sein... Ich sollte dir all das gar nicht erzählen. Eben gerade dir sollte ich es nicht erzählen."
Sie machte sich auf um den Raum zu verlassen. Simmon sprang auf und hielt sie sanft zurück. "Geh nicht." Er bemerkte, wie seine Tränendrüsen arbeiteten. Es würde nicht lange dauern und er würde eine Träne verlieren. Er, weinen? Wie lange war es her? So viel Zeit ist seit der letzten Träne vergangen, die sein Auge verlassen hatte. Er hatte sich damals geschworen von nun an immer hart zu sein, nie wieder Emotionen dieser Art zuzulassen. Und nun? Er war drauf und dran diesen Schwur zu brechen. Und das Schlimmste für ihn war, dass er selbst nicht einmal genau wusste warum. "Geh nicht, bitte!" Wiederholte er seine Worte. Sie blickte ihm tief in seine Augen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, dann drehte sie sich um und ging.
"Was war das denn eben?" Fragte Joshua. "Ach nix!" "Nichts? Also, für nichts sah mir das aber ziemlich komisch aus." "Ich weiss selber nicht, was es ist... Aber so wie sie erzählt, dass ich sie an ihren Mann erinnere, so erinnert sie mich an meine verstorbene Geliebte." Eine Träne fand nun ihren Weg über seine Wange, von seinem Kinn tropfend, zu Boden. "Ich sag schon nichts mehr, ich denke es ist besser so." Joshua drehte sich um und versuchte zu schlafen. Nach einer ganzen Weile, in der Simmon in Gedanken versunken und bei Zorax und Sarah war, schlief auch er ein.
Am nächsten Tag warfen sich die beiden immer wieder flüchtige Blicke zu, doch sie sprachen in der Anwesenheit der anderen nicht miteinander.
Joshua sprach Simmon nicht darauf an, doch ihm missfiel wie sein Kamerad diese Frau ansah. Immerhin schienen die übrigen Anwesenden ihr Misstrauen langsam abzulegen. Auch wenn noch kein Gespräch zwischen ihnen und den beiden entstand, so wurden sie inzwischen wenigstens offen angeschaut. Den Vormittag verbrachten Simmon und Joshua erneut in ihrem Schlafraum, wo sie Pläne schmiedeten, wie sie aus dieser Gruppe Menschen fliehen könnte, immer mit dem Ergebnis, dass es sinnlos wäre, da sie permanent bewacht wurden. Kurz vor Mittag dann dröhnte ein lautes Signal und riss sie aus ihren Gesprächen. "Was ist los?" Fragte Simmon eine vorbeilaufende Person, als er den Kopf aus der Tür steckte. "Alarm! Mutanten sind in unser Gebiet eingedrungen!" Viele bewaffnete Männer strömten an ihnen vorbei.
Simmon wollte ihnen nachrennen, doch da griff ihn eine Hand kraftvoll an der Schulter. Bereits nach einer halben Körperdrehung sah er, dass es Franky war, der ihn zurückhielt. "Du bleibst schön hier!" "Aber..." "Nichts aber. Bisher seid ihr zwar nicht negativ aufgefallen, dass heisst aber nicht, dass ich euch traue, dass euch irgendjemand hier traut. Ihr könntet den Tumult für eine Flucht nutzen, oder euch auf die Seite der Angreifer schlagen und uns grossen Ärger machen." "Wie denn ohne Waffe?" Fragte Simmon frei heraus. "Du weisst so gut wie ich, dass ihr nicht unbewaffnet seid!" Franky blickte in Richtung Joshua, als wolle er sagen, dass dieser selbst bereits eine mächtige Waffe wäre.
Aus nicht allzu weiter Ferne hörte man den Lärm des Gefechtes; Schreie, menschliche und unmenschliche, Feuersalven, Grunzen - es mussten vier oder mehr Angreifer sein. Von zehn Männern, die losgezogen sind kamen bloss sechs zurück, davon drei schwer verwundet.
Die Männer berichteten, dass es acht Mutanten waren, die angriffen und sie alle Mühe hatten sie zurückzuschlagen. Die Hälfte haben sie getötet, doch die andere Hälfte ist geflüchtet. "Die werden mit weitaus mehr zurückkommen!" Äusserte sich einer der Soldaten. "Ich weiss! Das tun sie immer..." Franky überlegte kurz und vollendete dann seinen Satz: "Verstärkt die Wachen für heute Nacht! Morgen brechen wir auf. Wir sind hier nicht mehr sicher!" Die Soldaten verschwanden um seinen Befehl weiterzuleiten. "Simmon." "Ja?" "Was hat es mit dieser Karte auf sich, die wir dir abgenommen haben, als wir dich hergebracht haben?" "Es ist die Karte dieses Gebäudes." Antwortete Simmon wahrheitsgemäss. "Schwachkopf! Das weiss ich selbst. Das war nicht was ich wissen wollte. Gibt es... Gibt es einen..." "Einen Ausgang?" "Ja genau, gibt es einen Ausgang?" "Es gibt einen! Allerdings kann ich nicht sagen, ob er noch zu gebrauchen ist. Wir waren auf dem Weg dorthin, als ihr uns überfallen habt." "Nun gut, auf einen Versuch kommt es an. Wir werden uns morgen alle gemeinsam dahin begeben, du zeigst mir auf der Karte, wo sich dieser Ausgang befinden soll." Er wies Simmon an ihm zu folgen und sie setzten sich in Bewegung. Als Joshua sie begleiten wollte, hielt Franky ihn zurück: "Du nicht! Du bleibst hier!" Joshua wollte Widerworte bringen, doch ein kurzer Blick in Simmons Augen liess ihn die Worte, welche ihm bereits auf der Zunge lagen, herunterschlucken und stumm bleiben.
Simmon begleitete Franky in einen Raum, der als provisorisches Büro eingerichtet war. Dort erklärte er Franky anhand der Karte, wo sich der Ausgang befinden soll und gemeinsam überlegten sie die wohl sicherste Route dorthin. Franky hatte den Vorteil, dass er gelegentlich Leute aussand um ein wenig die Umgebung zu erkunden, und so zumindest die gewöhnlichen Reviere der Mutanten in der näheren Umgebung kannte. Sie markierten auf der Karte gewisse Bereiche als gefährlich, andere als potenziell ungefährlich und fanden so sehr schnell einen Weg, den sie beide als sinnvoll erachteten.
Als Simmon sich auf dem Rückweg zu Joshua befand, fing Zorax ihn ab. "Simmon." "Ach du sprichst doch noch mit mir?" "Ja, wieso denn auch nicht? Ich brauchte bloss Zeit um das von gestern zu verarbeiten." "Und nun?" Er fragte gespielt locker, doch hinter seiner Stirn machte sich wieder dieses Verlangen breit. Am liebsten hätte er sie sofort in den Arm genommen und sie geküsst, doch er liess sich nichts anmerken. "Komm mit." Sie packte ihm am Unterarm, sanft, aber doch bestimmend. "Ich muss mit dir reden - alleine!" Erst jetzt bemerkte Simmon, dass ihn gar keine Wachen begleitet hatten, weder als er mit Franky in das Büro gegangen ist, noch auf seinem Rückweg. Franky schien endlich ein Wenig Vertrauen gewonnen zu haben. Oder aber, die Wachen wurden an anderer Stelle einfach dringender benötigt. Sie gingen in einen abgelegenen Raum, der Zorax als Schlafquartier diente. Beide setzten sich auf der Kante ihres Bettes nieder.
Die ersten Minuten sagten sie gar nichts, sondernd sahen sich nur in die Augen. Während ihre Blicke immer durchdringender wurden, stieg das Verlangen nach dieser Frau in Simmon gewaltig an. Und auch ihr ging es nicht wirklich anders, so zumindest hatte er das Gefühl.
"Du erinnerst mich wirklich total an ihn!" "Zorax, ich muss dir was sagen..." "Nicht jetzt." Unterbrach sie ihn, als er ihr von Sarah berichten wollte. "Nicht jetzt!" Wiederholte sie bestimmter und legte ihren Arm um seine Schulter und zog sein Gesicht an das seine. Ihre Lippen berührten sich zu einem schüchternen Kuss. Simmon konnte die anschwellenden Gefühlswogen nun nicht mehr unterdrücken; auch er zog sie näher zu sich heran und vertiefte den Kuss auf ein intensives Mass. "Dies könnte unsere letzte Nacht sein Simmon." Flüsterte sie ihm ins Ohr. "Die letzte die wir am Leben sind. Morgen früh brechen wir auf, und keiner kann sagen, was uns erwartet." "Ich weiss." Antwortete Simmon, mit den Gedanken ganz woanders.
In seiner Fantasie strich er ihr bereits mit seiner Hand durch das Haar, spielte zärtlich mit seinen Fingern auf ihrem Rücken, liess seine andere Hand über ihre Brust gleiten. "Ich möchte diese Nacht mit dir verbringen!" Als sie ihm diese Worte ins Ohr hauchte, mit ihrer weichen Stimme, stellten sich ihm alle Haare am Körper zu einer prickelnden Gänsehaut auf. "Simmon, ich will, dass du heute Nacht bei mir bleibst! Simmon ich will dich! Doch zuvor möchte ich dir noch etwas erzählen." Mit diesen Worten löste sie sich aus der Umarmung und blickte ihn etwas ernster an. "Was möchtest du mir denn erzählen?" "Ich will, dass du mein Schicksal kennst. Ich will, dass du weisst wer ich bin. Ich will nicht nur ein Name für dich sein, nicht bloss eine Frau, mit der du intim geworden bist. Ich bin wie ich bin. Und mein Schicksal hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Ich möchte, dass du weisst, möchte, dass du verstehst." "Und ich will wissen, wer du bist, möchte ebenso wenig, dass du nur eine Illusion bleibst. Ich möchte die Welt für einen Moment durch deine Augen sehen und dein Schicksal kennen lernen!" Simon erkannte sich selbst kaum wieder. Doch schon einen winzigen Augenblick später wurde ihm bewusst, dass er seit Sarahs Tod nie wieder so sehr er selbst war, wie genau in diesem Moment.
"Vor drei Jahren, hatte ich eine Familie. Ich hatte einen Mann, den liebevollsten der Welt und wir hatten ein Kind, einen zwei Jahre alten Sohn. Der Name unseres Sohnes war Marcel und er war ein Sonnenschein. Doch unser Glück dauerte leider nicht so lange an, wie ich es mir erwünscht hätte." Sie schluchzte, eine Träne perlte von ihrem Auge herab. Sie schluckte zweimal schwer und setzte ihre Erzählung fort: "Sie wurden mir genommen, beide wurden mir genommen!" Nun brach sie in Tränen aus. Simmon legte seinen Arm beruhigend um sie und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. Etwa fünf Minuten lang weinte sie sich an seine Schulter geklammert aus.
"Es war ein sonniger Tag. Wir hatten einen Ausflug gemacht. Einen Ausflug in einen Park in der Nähe unserer Heimatstadt. Wir wollten Enten sehen. Marcel hatte nie zuvor Enten gesehen und dieser Park war einer der letzten, in dem sie noch freilebend existierten. Wir..." Sie schluckte erneut, es gelang ihr aber einen weiteren Schwall von Tränen zu unterdrücken. "Wir hatten uns stets bemüht, den Krieg von ihm fernzuhalten. Sind umgezogen, in eine Stadt weitab von den Gebieten, wo er schon Alltag war. Diese Stadt war ruhig, die Gefechte waren noch nicht bis hier hin vorgedrungen. Das alles änderte sich an diesem Tag." Simmon begann zu verstehen. Er war nicht der Einzige, der ein prägendes Schicksal voller Verluste zu verzeichnen hatte. "Der Himmel verdunkelte sich ruckartig. Es waren Bomber, die über uns flogen, zu tief um darauf zu hoffen, dass sie dieses Gebiet bloss überfliegen würden und ihr Ziel ein anderes sei. John, mein Mann, spielte gerade mit Marcel unten am See, während ich auf einer Bank einige Meter weiter sass. Ich rief ihre Namen, wollte zu ihnen laufen, doch meine Beine waren wie gelähmt. Ich sah die Wolke aus Bombern dunkler werden und näher kommen, dann sah ich einen Lichtball, der mein Augenlicht extrem blendete, hörte aber keinen Knall. Sobald meine Augen wieder etwas erkennen konnten, sah ich den See in Flammen stehen. Auch die nahen Bäume hatten Feuer gefangen. Ich suchte meine Liebsten, doch ich konnte sie nicht sehen. Ich versuchte ihre Namen zu schreien, doch meine Kehle blieb stumm. Ich wollte aufstehen, da bemerkte ich erst, dass ich verwundet war. Es war mir aber egal. Ich strengte mich an, setzte all meine Kraft ein... Ich stand auf und ging zu der Stelle, an der ich sie zuletzt gesehen hatte. Ich kämpfte gegen den Schmerz und die Hitze der gleissenden Flammen an um mich weiter vorzutasten. Alles was ich fand war ein verkohlter Überrest des Teddys, den wir Marcel zu seinem ersten Geburtstag geschenkt hatten und den er seit dem immer bei sich hatte."
Ihre Augen begannen zu zucken, kündigten die Ankunft weiterer Tränen an. Sie schluckte, doch es half nichts. Die Trauer brach aus ihr heraus. Erneut war es Simmons Schulter, die ihr Halt gab und an der sie sich ausweinte, dieses mal aber bedeutend länger. Simmon streichelte ihr durchs Haar, liess sie aber ihre Tränen weinen. Er wusste, wie befreiend es sein kann, einfach alles raus zu lassen.
"Oft sind es die kleinen Momente, die das Leben nachhaltig prägen und verändern." "Ja, oft ist es so. Es tut mir ehrlich leid, was du durchleiden musstest. Es muss schrecklich gewesen sein." Simmon brach sein Schweigen, um ihr Verständnis und Trost zu geben. "Ja, dass war es. Hätte ich Franky und meinen Vater nicht gehabt, ich wäre daran zerbrochen. Die beiden standen mir sehr bei in dieser Zeit. Und es war gewiss keine leichte Zeit! Der Krieg tobte nun mitten um uns herum und ich war emotional am Boden angekommen. Der Trost der beiden half mir weiter zu leben. Ich lernte meinen Schmerz und meine Trauer zu bewältigen. Es dauerte, aber ich habe es weitestgehend geschafft." Sie stockte kurz. "Weisst du, dass du seine Augen hast? Johns Augen! Die gleiche Ausstrahlung, das gleiche Leuchten." "Weisst du, dass ich dieses Leuchten erst wieder gefunden habe, als ich dich das erste Mal erblickte?" Entgegnete ihr Simmon. "Ich will nicht, dass du denkst, ich würde dich als Ersatz für John haben wollen. Er ist nicht zu ersetzen! Du bist nicht er, du bist du!" "Ich weiss, mach dir darum keinen Kopf." Er küsste sanft ihre Stirn. "Ich weiss das nur zu gut!" In Gedanken war er wieder bei Sarah. Auch sie war durch niemanden zu ersetzen. Aber etwas in ihm sagte ihm, dass es Zeit war loszulassen. Eine neue Chance kuschelte sich gerade in seine Arme, eine neue Chance auf Liebe und inneren Frieden.
Er dachte kurz daran, auch ihr von Sarah zu erzählen, doch er liess es bleiben. Es war nicht der Moment, für seine Vergangenheit, es war der Moment für ihre. "Ich lebte von diesem Tag an bei meinem Bruder, unser Vater war schon lange vorher, direkt nach dem Tod unserer Mutter, zu ihm gezogen. Diese Nähe zu den einzigen Menschen, die mir geblieben waren, tat gut. Ich klammerte mich an sie, sie waren mein Halm, der mich vor dem ertrinken rettete." Sie kuschelte sich nun wieder offensiver an Simmon und er erwiderte diese Geste der Zuneigung. "Dann eines nachts kamen sie. Sie drangen in unsere Wohnung ein und brachten uns in ihre Gewalt. Franky leistete Widerstand, doch sie schlugen ihn nieder. Vater und ich standen unter Schock und konnten uns nicht zur Wehr setzen. Sie brachten uns hierher und steckten uns in Zellen. Wie Tiere haben sie uns behandelt. Viele waren hier unten, viele Menschen in Zellen. Danach begannen sie immer wieder einige von uns für ihre Experimente zu verwenden. Einige wurden verändert zurück in ihre Zellen gesteckt, andere sahen wir nie wieder. Franky galt als rebellisch, deswegen unterzogen sie ihm regelmässig einer Elektroschockbehandlung. Ein Umstand, der letztendlich wohl dazu geführt hat, dass wir heute frei und am Leben sind." "Frei ist hier unten keiner!" Murmelte Simmon vor sich hin, mehr an sich selbst gewendet, als für Zorax Ohren bestimmt. "Und das ist meine Geschichte, mein Schicksal, mein Fluch. Meine wahre Freiheit starb mit Marcel und John."
Sie blickte in seine Augen und auch er schaute in die ihren. Er wusste nicht, ob dies der Moment dafür sei, doch er konnte nicht anders. Er legte seine Handflächen auf ihre Wangen und zog ihr Gesicht an sich. Er küsste sie leidenschaftlich. Gänsehaut durchzog seinen Körper und ein leichtes Kribbeln befiel seine Bauchgegend. Ja, er war verliebt. Sie liess es zu, ging auf seine Zärtlichkeit ein. Die beiden küssten sich immer leidenschaftlicher und inniger. Die Welt um sie herum schien vergessen. Für die Dauer einer Nacht sollte der Krieg um sie herum, der Bunker, die eingeschränkte Freiheit und das Unwissen, was sie alle am nächsten Tag erwarten würde, vergessen sein. Langsam streifte Simmon ihr das Oberteil über den Kopf und befreite ihre verlangende Haut von dem Stück leblosen Stoff.
Auch sie entkleidete sein Hemd. Ihre nackten Oberkörper schmiegten sich aneinander, elektrisierende Spannung lag in der Luft. Es knisterte vor Erotik. Sie liessen sich Zeit. Behutsam und langsam zogen sie sich gegenseitig aus, immer wieder von innigen Küssen begleitet. Simmon küsste jede neu freigelegte Hautpartie, bedeckte sie mit feuchter Zärtlichkeit. Er spielte mit seiner Zunge an ihren Brustwarzen, fuhr mit seinen Lippen über ihren Brustkorb, während sie mit ihren Fingerspitzen sein Rückgrat nachzeichnete. Dann vergrub sie ihren Mund in seinem Nacken. Sie stöhnte lustvoll auf, als er den Bereich oberhalb ihres Beckens liebkoste. Er streifte vorsichtig ihre Hose von ihren Beinen und befreite sie aus ihren Socken. Auch sie entfernte weitere Kleidung von seinem, mit Narben überdeckten, Körper. Nach einiger Zeit lagen sie, nur noch minimal bekleidet - sie mit einem Slip, er mit seiner Shorts - nebeneinander und streichelten ihre Körper gegenseitig. Simmon küsste nun erst ihre Stirn, dann ihre Lippen, gleitete weiter hinab über ihr Kinn zu ihrem Hals. Er bedeckte die Strecke über ihre Brust zu ihrem Bauchnabel mit endlosen, zarten Küssen. Während er ihren Oberschenkel an seinen Lippen hatte, zog er ihr nun auch das letzte schützende Stück Stoff aus. Ja, die Welt um sie herum war vergessen! Sein Mund vergrub sich im Zentrum ihrer Weiblichkeit. Sie stöhnte vor Lust, als seine Zungenspitze den sensibelsten Teil ihres Körpers berührte. "Ich will dich spüren!" Flüsterte Zorax nach einigen Momenten dieses intensiven Liebesspieles. Sie verschmolzen im Akt der Liebe zu einer Einheit. Nicht mehr zwei Körper, welche sich aneinander schmiegen, sondernd ein vereinter Körper, so schien es zumindest. Ihre Bewegungen, ihre Gedanken, ihre Herzen, alles schien im Einklang und Gleichtakt zueinander zu sein.
Nach dem Sex, überfielen einige Gedanken Simmons Bewusstsein. Kann es in dieser Zeit wirklich Hoffnung, für die beiden und ihre Liebe geben? Ist es überhaupt wahre Liebe, was er für sie empfindet? Hat er seine einzig wahre Liebe, Sarah, hat er sie nicht durch seine gerade vollzogene Tat verraten? Noch nie, war er so am zweifeln, ob das was er tut das richtige ist. Doch schon lange war er auch nicht mehr so glücklich gewesen. Sorgen bereitete ihm auch sein Lebenswandel seit Sarahs Tod. Er war zum Todesbringer geworden, emotions- und skrupellos. Wie kann er sicher sein, diesen Teil, der über die lange Zeit ein Teil von ihm geworden war, besiegt zu haben? Hat ihm das Schicksal in diesen Bunker geführt, damit er eine zweite Chance bekommt einen Menschen kennen zu lernen, den er lieben kann? Immer wieder betrachtete er sie, wie sie dort in seinen Armen lag und lächelte. Auch er lächelte, doch in seinem Kopf arbeitete es weiter. Sarah, kann er sie wirklich ziehen lassen? Ist er ihr nicht zu ewiger Treue verpflichtet, wie er es ihr einst geschworen hatte? Hat er sie so eben betrogen? Hat er ihre Liebe, die er über Jahre in seinem Herzen gepflegt hatte, etwa aufgrund von männlichen Trieben verkauft? Nein, es war nicht bloss ein Trieb, was ihn zu Zorax führte. Es war nicht nur Verlangen nach ihr, es war mehr. Es war geistige Verbundenheit und der Einklang im Herzen. In ihrer beiden Brust schlugen Herzen der gleichen Art. Er war sich sicher, in Zorax hatte er eine gleichgesinnte gefunden. Er beschloss sich seinen Gefühlen hinzugeben und sich einfach treiben zu lassen, statt dagegen anzukämpfen.
Sie vollführten den zarten Akt in dieser Nacht zwei weitere Male, bevor sie schliesslich vollkommen erschöpft, aber über alle Welten glücklich und sorglos einschliefen, er immer noch in ihr...
Am nächsten Morgen wurden sie ruckartig geweckt. Während sich Simmon noch den Schlaf aus den Augen rieb, nahm er langsam die beiden Gestalten wahr, die ihn so unsanft aus den Träumen gerissen hatten; Franky und Joshua.
Während Franky ihn und Zorax mit einem vorwurfvollen Blick strafte, konnte sich Joshua ein breites Grinsen nicht verkneifen. Simmon realisierte, dass er den beiden gerade seinen nackten Körper zur Schau stellte und auch sein bestes Stück nicht im Verborgenen lag. Er reagierte schnell und zog sich die Decke über sein Becken. "Mit dir rede ich später noch." Ermahnte Franky seine Schwester. "Doch jetzt ist es erst mal Zeit zu frühstücken. Ihr müsst alle bei Kräften sein, wir haben einen langen Weg vor uns." Er drehte sich um und wies Joshua an ihm zu folgen. Simmon suchte seine Klamotten zusammen und zog sich an. Zorax tat es ihm gleich. Anfänglich noch überrumpelt durch den unerwarteten Besuch eben gerade, stellte sich schnell wieder die Vertrautheit der vergangenen Nacht zwischen den beiden ein. Sie küssten sich, brannten beide vor Verlangen, doch für mehr als einen Kuss war keine Zeit.
Das Frühstück verlief einigermassen normal, wenn man die Umstände bedenkt. Simmon störte es aber, dass Zorax und er nicht beieinander sitzen konnten. Viel mehr aber noch störte ihn, dass Franky seine Schwester anscheinend gerade zurechtwies, er aber keines der Worte verstehen konnte, die gesprochen wurden. Nach einer halben Stunde waren die meisten mit ihrem Mahl fertig und Franky erhob sich. Wie auf Signal verstummten alle Gespräche und Tuscheleien im Raum und sämtliche Blicke waren auf Franky gerichtet.
"Wie ihr wisst, sind wir hier nicht mehr sicher. Es gab heute Nacht zwar keinen erneuten Angriff, doch es könnte jederzeit so weit sein! Wie ihr auch wisst, habe ich daher beschlossen, diese Stellung aufzugeben. Es befinden sich Dokumente und Informationen in meinem Besitz, die auf einen möglichen Ausgang aus diesem Gebäude hinweisen. Ich kenne den potenziellen Ort dieses Ausganges und habe auch schon die Route dorthin festgelegt. Wir werden einige Stunden unterwegs sein, also bereitet euch auf einen anstrengenden Marsch vor. Nehmt dennoch nur mit, was ihr wirklich braucht." Er stoppte seine Rede einen kurzen Moment, schwenkte seinen Blick durch den Raum und setzte das Wort erneut an: "Ich bezweifle, dass alle hier Anwesenden genug Kraft für diesen Weg aufbringen können. Jeder der möchte kann es gerne versuchen, doch wir können auf dem Weg keine Rücksicht auf die Älteren oder Verwundeten nehmen. So leid es mir tut, wer das Tempo nicht halten kann, wird zurückgelassen!" Wieder unterbrach er kurz, seufzte, bevor er seine Rede vollendete: "Wir können sicherlich jede Waffe gebrauchen die wir haben, doch sollte es Leute unter euch geben, die von vornherein lieber hier bleiben wollen, so werden wir sie nicht unbewaffnet hier lassen. Wir brechen in einer halben Stunde auf, wer mitkommen will, findet sich dann bitte hier wieder ein. Nun geht eure Sachen packen!"
Eine halbe Stunde später setzte sich der Trupp in Bewegung. Erst jetzt bemerkte Simmon, dass in dieser Kolonie, wenn man es denn so nennen möchte, weitaus mehr Menschen lebten, als er bisher angenommen hatte. Es waren gut 80 Personen versammelt, bepackt mit den allernötigsten Gepäck und bereit einen Weg zu beschreiten, von denen keiner so genau wusste, was sie auf diesem erwartet und ob es das Ziel der Hoffnung überhaupt wirklich gibt.
Ein Marsch ins Ungewisse hatte für diese Menschen begonnen...
Für Simmon in zweifacher Hinsicht; Werden sie ihr Ziel erreichen? Wird er wieder frei sein? Und was wird aus ihm und Zorax werden? Nur das Schicksal kennt die Antworten.
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