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Mechelon - Der Bunker (1)

2004

Simmon war ein abgebrühter Kerl. Viele Menschen hatte er sterben sehen, nicht wenige durch seine eigene Hand; oder zumindest seinen Befehl. Er hatte nicht mehr viel von dem in sich, was man als Barmherzigkeit bezeichnet, wohl eher gar nichts mehr davon. Er war es gewohnt den Tod zu bringen. Er war in diesen Krieg geboren worden, er kannte es einfach nicht anders!

Er führte eine Truppe gnadenloser Krieger an, die alles niederwalzten, was sich ihnen in den Weg stellte. Aber an sich waren sie keine Söldner, sie waren einfache Räuber, Plünderer.

Sie betraten die Stadt erst, als sich der Bombenregen beruhigt hatte und die nachziehenden Mechtruppen verschwunden waren. Vereinzelte Detonationen von Spätzündern waren das Einzige, das die eisige Stille, welche sich über das ehemals prächtige Stadtbild wie ein dunkler Schleier gelegt hatte, durchbrach. Sie waren auch das Einizige, was die, zutiefst vom Dunkel verhüllten, Strassen zwischendurch erhellte. Es war tiefste Nacht, die Luft war von Staub durchweht, Staub zerfallener Gebäude. Vom Himmel regnete es Asche, Asche verbrannter Güter, Asche verbrannter Menschen. Einige Körper zuckten noch, knisterten, doch es war kein Zeichen von Leben. Es war lediglich die Aktivität des Feuers, welches die Leiber noch nicht zur Gänze verzehrt hatte, die sie ihren morbiden Totentanz aufführen liess.

Nicht alle von Simmons Leuten hatten ordentliche Atemmasken, einige mussten sich mit feuchten Tüchern vor den Mündern schützen. Das ungefilterte einatmen der Luft, welche durch die Strassen fegte, wäre der sichere Tot gewesen. Die Stadt hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt, sie erwarteten keinen Widerstand während ihres Raubzuges. Sie nahmen den Toten, was nicht verbrannt war und irgendwie von Wert schien. Sie durchstreiften die Kellergewölbe der Gebäude, immer auf der Suche nach Beute.

Schon lange spielten sie dieses Spiel. Sie suchten sich Städte, die unter schwerem Beschuss standen und warteten. Sobald sämtliches Leben in den Städten ausgelöscht schien, betraten sie diese und raubten sie aus.

Einige Male stiessen sie auf Überlebende, Überlebende des Bombenangriffs, sie überlebten die Begegnung mit Simmons Truppe nicht!

"Simmon, hier lebt einer." Es war Dwarf, einer von Simmons besten Männern, der die zusammengekaurte, wimmernde Gestalt unter einer weggeschleuderten Metalltür entdeckte. "Naja, ob man das noch Leben nennen kann." Liess Simmons es zwischen den Zähnen hervorzischen. "Der ist wohl näher dem Tode, als dem Leben!" "Aber er atmet." Wollte sich Dwarf, auf die Bemerkung seines Führers, verteidigen. "Dann lass ihn doch atmen. Meine Fresse, was willst du mir sagen Dwarf?" "Ich... Ich meine..." "Ja? Was meint unser Dwarfi denn?" "Nenn mich nicht so!" "Was sonst? Willst du mich sonst umbringen?" "Nein." Dwarf wusste, wie stark er selbst war, aber er wusste auch, dass er gegen Simmon nicht den Hauch einer Chance gehabt hätte. "Nein, ganz sicher nicht!" "Na dann ist ja gut. Fahre fort, was wolltest du mir mitteilen, als du mich auf diesen Haufen Elend aufmerksam gemacht hast? Widerstand kann er keinen leisten, als Sklave taugt er nix und als Krieger schon gar nicht! Was also interessiert es mich, ob er am Leben ist?" "Er leidet. Ich finde wir sollten ihn von seinen Qualen erlösen." "Wie bitte?!" Simmons Stimme erhob sich, klang wie die eines tadelnden Vaters, der überhaupt nicht mit dem einverstanden war, was ihm sein Sohn gerade berichtet hatte. "Erlösen? Wozu? Er hat keinen Wert für uns, er ist ein Stück Dreck. Die Scheisse unter meinem Hacken. Lass ihn leiden, er soll jämmerlich zugrunde gehen! Er ist weder die Mühe wert, seinem Leben ein schnelles Ende zu bereiten, noch die Diskussion darüber." "Aber..." Dwarf wollte seinen Truppenführer anscheinend nicht verstehen. Simmon verlangte auch kein Verständnis, er verlangte Gehorsam. Simmon hatte Dwarf klargemacht, dass er keine weiteren Widerworte dulden würde, dass eine Diskussion mit ihm sinnlos, gar gefährlich war. Er guckte Dwarf durch seine dunklen, scharfen Augen an. Würden Blicke töten können, so hätte dieser Blick Dwarf alles Leben aus dem Körper gesaugt. Aber da der Blick nicht totbringend war, war er lediglich die Ankündigung einer totbringenden Handlung.

Simmon sprang auf Dwarf zu, warf ihn zu Boden, drehte ihm den rechten Arm auf den Rücken und presste sein Gesicht in den Staub. Der Hebelgriff den er angesetzt hatte liess Dwarf keinen Bewegungsspielraum. Würde er versuchen sich aus der Klammerung zu befreien, so würde er sich zwangsläufig selbst den Arm brechen und die Schulter auskugeln. Dem kam Simmon aber zuvor. Er drehte den Arm immer weiter nach oben in Richtung Genick. Er vernahm mit einem Grinsen im Gesicht das knackende Geräusch, als der Schulterknochen aus seinem Gelenk sprang. Dwarf heulte auf vor Schmerzen und ihm wurde schlagartig mehr denn je bewusst, was für ein Monster von Mensch Simmon war. Inzwischen hatte dieser sein linkes Knie so auf das Rückgrat seines Opfers gedrückt, dass dieses immer noch keine Chance hatte sich zu erheben und sich zur Wehr zu setzen. Doch er hörte auch jetzt nich auf sich mit dem Arm zu beschäftigen. Er bewegte den Arm so weit nach oben, dass die Haut zu reissen begann. Der Arm hing nur noch an Muskelsträngen; eine blutige Verbindung zu dem Körper, dem er kurz zuvor noch angehörte. Nun begann Simmon den Arm in einem 90° Winkel vom Körper weg zu stellen und ihn um die eigene Achse zu drehen, er schraubte ihm förmlich vom Rumpf. Die Sehnen und Muskelstränge gaben nach und begannen nun auch zu reissen. Unmengen von Blut ströten aus der Wunde. Simmon grinste nun noch breiter, als in dem Moment, wo der Arm sich ausgekugelt hatte. Er hielt den Stumpf in die Höhe und fing an zu lachen. Ein finsteres Lachen, ein teuflisches...

Er schien einem Blutrausch verfallen zu sein, der erst enden würde, wenn sein Gegenüber keinen einzigen Atemzug mehr machen könnte. Der Rest seines Trupps starrte gebannt auf Simmon und Dwarf. Sie hatten ihren Anführer schon oft in Raserei erlebt, wussten wozu er fähig war. Doch nie hatten sie miterlebt, wie sich sein Zorn so extrem gegen ein Mitglied ihres Trupps entladen hatte.

Simmon hielt den Arm noch eine weile über seinen Kopf in die Luft, wie ein Schwertkämpfer seine Klinge nach einem triumphalen Sieg in die Höhe streckt. Dann, von einer Sekunde auf die andere, verfinsterte sich sein Blick abermals, seine Gesichtszüge ähneltem nun denen, eines vom Teufel besessenen Dämonen. Er fing an Dwarf mit seinem eigenen Arm zu schlagen. Er schlug immer wieder zu, immer wieder. Schnell waren seine Hiebe und doch mit einer ausstrahlenden Ruhe, die eine Aura um ihn herum aufbaute, die das pure Grauen über die Nackenhaare seiner Untergebenen jagdte. Der Arm zersplitterte immer mehr, Knochen lugten an einigen Stellen durch die Haut und das Blut spritze in dicken Tropfen. Dwarf bäumte sich bei jedem Hieb auf, versuchte sich der Gewalt seines Führers zu entziehen. Er war chancenlos. Blinde Wut und Raserei liessen Simmon etwa zehn Minuten weiter auf die Schädeldecke Dwarfs einschlagen, ehe er sich langsam beruhigte und mit den Schlägen aufhörte. Dwarf hatte nun schon länger keinen Laut mehr von sich gegeben, er musste schon einige Minuten tot sein. Sein Schädel war, an der Stelle, auf die Simmon permanent eingedroschen hatte, geöffnet und liess den Blick auf das Gehirn frei. Simmon spuckte dicken Rotz in den offenen Schädel und drehte sich nun zu seinen übrigen Männer um.

"Noch Jemand, der in irgendeiner Sache eine andere Meinung hat als ich?" Der Trupp schwieg. Keiner wollte ein ähnliches Schicksal erleiden wie Dwarf. Er war einer der engsten Vertrauten Simmons gewesen und einer der besten Krieger ihres Trupps, dennoch hat Simmon ihn ohne zu zögern und auf eine Weise getötet, die die Angst in ihre Knochen brannte. Wären sie bei klarem Verstand gewesen und nicht von ihrem Entsetzen und der Angst geblendet, so hätten sie gemeinsam den Kampf gegen Simmon locker gewinnen können. Doch keiner von ihnen dachte auch nur daran sich mit ihm anzulegen. Er hatte einmal mehr bewisen, warum er der Führer war und sie bloss Untergebene.

"Okay. Habe auch nichts anderes von euch Feiglingen erwartet." Simmon wischte sich das Blut aus dem Gesicht, bevor er weitersprach: "Und nun, lasst uns sehen, was diese Stadt noch so für uns hat. Wenn ihr Überlebende findet, so tötet sie, findet ihr sterbende, so lasst sie liegen." Er wollte an sich weitere Befehle geben, doch dann erblickte er Etwas, das ihm gar nicht gefiel. Der Schatten um sie herum wurde dichter, so als ob sich Gestalten in jedem Schlitz der Gebäude, durch den Etwas mattes Mondlicht hätte durchscheinen können, verbargen. Er fühlte sich in Gesellschaft. Er vermutete, dass sich andere Leute, womöglich ein anderer Trupp von Raubmördern an sie geschlichen hatte, während er sein blutiges Werk vollbrachte und seine Männer davon so gebannt waren, dass sie sich nicht um ihre Umwelt scherten. Und er sollte Recht behalten.

Der erste Pfeil zischte nur haarscharf an seinem Gesicht vorbei, schlug hinter ihm in einige Mauerreste und detonierte. Nun begann der Pfeilregen. Aus allen Ecken und Winkeln der sie umgebenden Gebäude schossen sie hervor: Explosionspfeile. Simmon warf sich instinktiv zu boden und robbte sich langsam zum Strassenrand. Durch seine dunklen Haare und seine schwarzen Klamotten hoffte er, würden sie ihn nicht sehen. Er wusste, dass er nahezu eins mit der Dunkelheit werden, mit dem Schatten verschmelzen konnte. In seinen Anfängen als Räuber musste er hart erlernen, was es für Vorteile bringt ungesehen und lautlos zu sein. Er sah aus seinem Augenwinkel, wie es einem seiner Männer den Kopf von den Schultern sprengte. Einem zweiten wurde das linke Bein genommen, so dass dieser augenblicklich zu Boden fiel und sich vor Schmerz krümmte. Den Schreien und kleinen Explosionen nach zu urteilen musste es noch einge mehr von seinen Männern erwischt haben. Der Geruch von frischen, warmen Blut erfüllte die Luft um ihn herum. Er kroch weiter, bis er Etwas Schutz hinter einer zertrümmerten Mauer fand. Nun nahm er Stellung ein. Sein automatisches Gewehr im Anschlag, durchsuchte er seinen Rucksack nach dem Infrarotsichtgerät. Nachdem er es gefunden und aufgesetzt hatte blickte er sich in die Richtung um, aus der der erste Pfeil auf ihn zugeschossen kam. Er sah nichts. Entweder hatten seine Feinde sich hinter den Dicken Mauerplatten verborgen, oder aber, was noch viel gefährlicher wäre, sie trugen Thermokampfanzüge. Was er aber deutlich sah, waren mindestens acht leblose Köprer, die in Fetzen gerissen auf der Strasse lagen. Er konnte die Wärme aus ihnen entschwinden sehen. Sämtliches Leben entwich seinen Kameraden binnen Sekunden. Die Angreifer waren schnell und präzise vorgegangen, er und seine Männer waren in einen Hinterhalt geraten. Er hoffte nicht darauf, dass es Jemand aus seiner Truppe geschafft hatte, so wie er, am Leben zu bleiben. Er vermutete, dass sie alle tot wären, alle 20 Mann. Er konnte nichts tun, ausser abwarten. Sein Versteck zu verlassen hätte seinen sicheren Tod bedeutet, wenn diese anderen Männer, diese unsichtbaren Angreifer, diese Schatten noch in der Nähe waren. So sehr er selbst ein Kind der Nacht war und selbst jeden Schatten zu seinem Vorteil nutzte, so sehr wünschte er sich, das der Morgen graut und der Dunkelheit ihren Schrecken nimmt. Es verging einige Zeit, bevor das Morgenlicht tatsächlich eine bessere Sicht auf die Dinge zuliess. Simmon konnte nicht sagen wie lange es war, nach seinem Zeitgefühl waren es sogar Tage.

Er blickte sich um, sah nun, im trüben Licht des nebligen Morgens, das volle Ausmass des gestrigen Angriffes. Seine Männer lagen entweidet, zerfetzt auf der Strasse, oder eher dem, was mal eine Strasse war. Überall verstreut: Körperteile, Gehirnstücke und Blut. Unendlich viel Blut. In der Kantsteinrinne floss es zu einem kleinen Rinnsaal zusammen und strömte. Es sah aus, wie die einzige Ader der Stadt, in der sich noch Leben befand.

Er wusste, er düfte nicht lange an diesem Ort verweilen, denn die Mechtruppen würden bei Tage die Stadt erneut nach Überlebenden absuchen. Auf Simmons Kopf war in vielen Städten ein hohes Preisgeld ausgesetzt und er war sich sicher, dass weder die Truppen der Allianz, noch die Rebellen und schon gar nicht die auf eigene rechnung handelnden Clans, Gnade mit ihm walten lassen würden. Er konnte sich in der Stadt aber auch nicht bewegen, wie er wollte, denn obwohl die Angreifer der vergangenen Nacht scheinbar nicht mehr hier waren, so könnten sie ihm jederzeit wieder begegnen. Und während sie scheinbar ein ganzer Haufen waren, so war er allein.

Allein? Ironischerweise packte ihm just in dem Moment, wo er darüber nachdachte und sich ins Bewusstsein rief, was es hiess in dieser Stadt alleine zu sein, ein Arm an der Schulter. Er drehte sich um, noch in der Drehung zückte er sein Messer, und hielt es der hinter ihm stehenden Person an die Kehle. Der Schock, den Simmon in dem Moment verspürte, als sich die Hand auf seine Schulter legte, wich ruckartig einer noch grösseren Überraschung. Vor ihm stand Timmez, einer aus seiner Truppe, er lebte. Seine Kleidung war von Blut durchspült und sein Gesicht war von Mauerwerk und Metallsplittern, die, durch die Explosionen der Pfeile, selbst wie Geschosse durch die Luft geschleudert wurden, zu einer Fratze verzerrt. Sein Gesicht war nicht mehr das, was Simmon kannte, aber es war unverkennbar Timmez. Er wollte Etwas sagen, doch seine Lippen waren vom Blut verkrustet, so dass er lediglich ein leises Röcheln hervorbrachte. Er humpelte, nachdem Simmon das Messer wieder vom Hals des Mannes entfernt hatte, einige Schritte vor Simmon zurück. Erst jetzt konnte Simmon das ganze Ausmass der Verletzungen sehen, die Timmez erlitten hatte. Sein rechter Fuss war weg, einfach abgetrennt. Er zog eine deutlich sichtbare Blutspur hinter sich her, die zeigte, dass er sich genau wie Simmon selbst, hinter Mauertrümmern verborgen gehalten hatte um den gestrigen Angriff zu überleben. Er hatte viel Blut verloren. Simmon fragte sich wie lange Timmez überleben könnte.

Er hatte sich vorher nie viele Gedanken über das Leben gemacht. Er war Totbringer, nicht Arzt. Im Grunde hatte er sich die meiste Zeit seines Lebens lediglich darüber gesorgt, wie er am effizientesten oder am qualvollsten töten konnte. Nicht aber darüber, wie er Verltzungen versorgen könnte, um Leben zu erhalten. Doch in diesem Moment dachte er an nichts anderes. Er versuchte sich zu orientieren. Er musste ein Versteck finden, in dem sie beide bis zur Abenddämmerung verweilen könnten, in dem er Timmez Wunden zumindest notdürftig versorgen könnte. Er musste die Gegend Etwas erkunden.

"Kannst du laufen?" Fragte er Timmez, bemerkte aber sofort selbst, wie dumm seine Frage war. Er hatte Timmez Fuss gesehen, oder vielmehr das, wo mal sein Fuss war. "Vergiss es! Warte hier... Versteck dich hier irgendwo, ich suche uns ein besseres Versteck." Er verschwand ohne auf eine Antwort zu warten. Und tatsächlich, er kam schon nach kurzer Zeit zurück. "Timmez!" Rief er, er bekam keine Antwort, aber er vernahm ein Geräusch, welches nahe der Stelle, an der er Timmez zurückgelassen hatte, seinen Ursprung hatte. Er ging dem Geräusch nach und da war er, Timmez. Er hatte sich an ein Stück Mauer gelehnt und sah nochmal um einiges schlechter aus, als zu dem Zeitpunkt, wo Simmon ihn verlassen hatte.

"Ich habe ein Versteck gefunden, einen Bunker! Der Eingang ist so gelegen, dass er nicht so schnell gefunden werden kann. Ich hoffe dort werden sie uns nicht entdecken." Mit sie waren alle gemeint. Keiner sollte sie finden, denn Freunde hatten sie keine! Timmez blickte ihm Etwas erleichtert an. "Dort werde ich mich um deine Wunden kümmern." Nun sprachen Timmez Augen Bände über die Überraschung, die sein Führer ihn mit diesen Worten bereitete. Er selbst hatte gesehen, was Simmon mit Dwarf gemacht hatte, wieso sollte er Timmez Wunden versorgen, wo es ihm doch solche Freude bereitete anderen Wunden zuzufügen? Er verwarf den Gedanken schnell wieder, denn ohne Simmon würde er sowieso nicht mehr lange leben. Er versuchte aufzustehen und es gelang ihm tatsächlich, wenn es auch schien, dass er dabei all seine Energiereserven aufbringen musste, die sein angeschlagener Körper noch hergab. Simmon stützte ihn und gemeinsam gingen sie voran. Der Tag kam immer schneller in die Stadt. Wo kurze Zeit vorher noch der Morgennebel alles in ein diffuses Licht tauchte, war die Luft nun fast klar und die Sonne brannte. "Es ist nicht weit, aber der Weg ist beschwerlich." Sagte Simmon zu Timmez. Timmez nickte nur, wie eine stillschweigende Antwort, dass er es schon schaffen würde. Im Grunde war sich Timmez allerdings nicht sicher, ob er den Weg tatsächlich schaffen würde, es war mehr als Zweifel. IrgendEtwas in ihm sagte ihm, dass er noch heute den Tod finden würde.

Aber sie schafften es tatsächlich beide lebend und unbemerkt zum Einstieg des Bunkers, von dem Simmon gesprochen hatte. Die Luke war mit einem Drehrad verschlossen. Simmon setzte Timmez ab und öffnete sie. Als er hier gewesen war, hatte er natürlich geschaut, ob sie sich öffnen liess. Er hatte sie ohne Probleme geöffnet und den Deckel aufgeklappt, als er sich Timmez zuwandt: "Timmez! Du musst herkommen, steig herab." "Aber, ich kann das nicht." "Du musst, die Luke schliesst sich selbsttätig, sobald ich sie loslasse, scheint ein Schutzmechanismus zu sein." Timmez rappelte sich hoch und humpelte zum Einstieg. Er stieg die Metallleiter hinunter und schrie, bei jedem Aufsetzen seines kaputten Beines auf eine der Stufen, vor Schmerzen auf. Sobald Timmez unten im Bunker angekommen war, folgte ihm Simmon. Der Deckel schloss sich, wie Simmon es vorrausgesagt hatte, automatisch. Es drang kein Licht von Aussen herein und im Inneren brannten keine Lampen. Es schien nicht einmal elektrisches Licht zu geben. Gab es überhaupt Strom hier unten? Sie wussten nicht, wie alt der Bunker sein mochte, doch es konnte durchaus sein, dass er aus einer Zeit stammte, in der diese Art von Einrichtungen noch nicht mit Strom versorgt wurden. An der Wand hingen, in Messingringe gesteckt, genügend Fackeln um für ein helles Licht zu sorgen. Simmon zückte sein Feuerzeug, entzündete eine von ihnen und nahm sie aus ihrer Fassung.

Sie mussten bestimmt eine Viertelstunde in dem Gängen des Bunkers umhergeirrt sein, bevor sie auf einen Raum stiessen, der an ein Krankenzimmer erinnerte. Bücher über Medizin waren fein säuberlich, auf einem Holzregal an der Wand, aufgereiht, es gab ein Bett und einen Schreibtisch sowie unzählige Medikamente und einen grossen Verbandskasten. "Hier legst du dich erst mal hin." Befahl Simmon. "Lass mich nach deinen Wunden sehen." Fügte er in freundlichem Ton hinzu. Auf dem Tisch stand eine Petroliumlampe. Immerhin besser, als wenn die Flamme der Fackel die Dokumente hier entzünden würde, dachte Simmon. Er entfernte die Metallsplitter aus Timmez Gesicht und versorgte die blutenden Wunden mit Desinfektionsmittel und Salbe, welche er in seinem eigenen Rucksack hatte. Zwar gab es hier Medikamente im Überfluss, aber wer konnte schon sagen, wie alt diese waren? Zum Verbinden von Timmez Beinstumpf allerdings griff er auf den Verbandsvorrat aus dem Bunker zurück. Die Blutungen hatten zwar schon Etwas länger aufgehört, doch man sah Timmez den Blutverlust merklich an. Seine haut hatte schon die Blässe eines Toten angenommen und sein Zustand schien irgendwo zwischen wach und schlafend zu hängend. Seine Augen leuchteten, seine Pupillen waren übertrieben gross, es wirkte fast, als würde er auf einem schlechten Drogentrip sein.

Simmon hatte genug Menschen getötet um zu wissen, dass der eigentliche Kampf ums Überleben, das Ringen mit dem Tod, im inneren der Köpfe stattfindet. Und eben diesen Kampf bestritt Timmez gerade.

Während Timmez sich ausruhte um wenigstens wieder halbwegs zu Kräften zu gelangen, erkundete Simmon den Bunker weiter.

Etwas kam ihm komisch vor. Wenn dies tatsächlich ein Bunker war, wozu hatte er dann einen Zellentrakt? Wer macht Gefangene, wenn er sich vor einem feindlichen Angriff zurückzieht und Schutz sucht? Dieser Umstand liess einen kalten Schauer über seinen Rücken jagen. Er verscheuchte die Fragen in seinem Kopf und kam schnell wieder in eine normale Verassung. Es würde sich nicht lohnen darüber jetzt nachzudenken. Später... Später vielleicht, aber nicht jetzt. Er schritt weiter, an den Zellentüren vorbei und den Flur entlang. Obwohl der Boden nahezu horizontal zu verlaufen schien, so wurde er das Gefühl nicht los, dass er sich mit jedem Schritt, den er weiter Richtung Osten ging, tiefer unter die Erde bewegte. Die Luft wurde mit jedem Auf- und Absetzen seiner Füsse stickiger. Ohne Atemmaske würde er hier keine zwei Minuten überleben, so viel war ihm klar. Nachdem er so einige Zeit durch die Gänge streifte und den Räumen links und rechts des Flures nur flüchtige Blicke schenkte, zog Etwas seine Aufmerksam auf sich. Ein kleiner Raum, welcher sich von dem einheitlichen Eindruck, den die übrigen Räume bei ihm hinterlassen hatten, merklich abhob.

Er stellte sich direkt in den Türrahmen und leuchtete den Raum mit der Fackel in seiner Hand aus. Er brauchte einen Moment, bevor er begriff, warum er von diesem Raum so angezogen worden war. Er horchte... Da war ein Knistern. Ein Summen, als ob es hier doch Elektrizität geben würde. Und ja, dieser Raum war bisher der einzige, wenn er es sich genau überlegte, in dem er eine Lampe von der Decke hängen sah. Keine richtige Lampe, aber zumindest eine Lampenfassung, die an einem Kabel von der Decke herabhing und in der eine Glühbirne steckte. Er schwenkte die Fackel im Raum und tatsächlich: Neben der Tür gab es einen Lichtschalter. Er betätigte ihn und die Glübrine flackerte kurz auf, um sich dann sofort mit einem Knall zu verabschieden. "Durchgeknallt." Grummelte Simmon vor sich hin. Aber es gab also Strom. Warum bisher nur in diesem Raum? Oder hatte Simmon die anderen einfach zu oberflächlich betrachtet? Nein, irgendwas war mit diesem Raum. Der schwache Schein der Fackel konnte immer nur einen Teil ausleuchten, doch der Raum musste gross, wenn nicht gar riesig sein. Kein Licht traf auf eine gegenüberliegende Wand. Wo war er? Was war dies hier? Nach einigen Schritten merkte er, dass dies kein einzelner Raum war, es war ein zweiter Flur, ein Trakt. Doch was war dies für ein Trakt? Bisher gingen alle Räume direkt vom Hauptflur ab, eine symmetrische Anordnung gleichgrosser Rechtecke, verbunden über eine Linie. Bereits der erste Raum, welcher sich auf diesen Trakt befand, war anders, als die sich gleichenden Räumlichkeiten des Hauptflures. Hier gab es Licht. Der Raum war sehr verwinkelt, es war kein rechteckiges Konstrukt. Er hatte Bögen und Kanten, selbst die Decke war an einigen Stellen abgeschrägt. Simmon verstand den Sinn dieser abstrakten Bauart zwar nicht, aber er interessierte ihn auch nicht sonderlich. Inzwischen machte sich nämlich sein Magen bemerkbar. Er hatte Hunger. Und auch Timmez würde Nahrung brauchen um wieder genesen zu können. Wobei Simmon nicht viel Hoffnung hatte, dass Timmez aus seinem fiebrigen Kampf jemals als Sieger hervorgehen könnte. Er wollte sich also gerade wieder auf den Rückweg zu seinem Kameraden machen, als er einen Stapel handbeschriebener Pergamente entdeckte. Sie wirkten nicht sehr alt, der Geruch der Tinte lag sogar noch merklich in der Luft. War noch Jemand ausser ihnen hier unten? Zumindest konnte es nicht lange her sein, dass hier eine Person am Schreibtisch gesessen und die Blätter mit Leben gefüllt hatte. Umso mehr wollte er auf dem schnellsten Wege zurück in das Krankenzimmer. Er konnte seine Neugier aber auch nicht bändigen und so griff er die Pergamente und machte sich auf den Rückweg.

Timmez schlief, als Simmon den Raum betrat. Doch er wälzte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere. Er stöhnte, hustete, es war ihm anzusehen, dass es ihm sehr schlecht ging. Einige der Wunden in seinem Gesicht hatten sich anscheinend entzündet, denn eine leicht milchige, eitrige Schorfschicht hatte sich auf die Schrammen gelegt. Simmon hatte viele Menschen so leiden sehen, in der Regel genoss er den Anblick. Aber diesen Mann so sterben zu sehen, gab ihm nicht das geringste Gefühl von Freude. Er hatte wahrhaft keine Lust hier unten alleine zu sein. Bei diesem Gedanken fiel ihm wieder ein, was er entdeckt hatte. Vielleicht war er gar nicht allein hier unten. Er war den Trakt nicht weiter als bis zum ersten abgehenden Raum geschritten, wer weiss was oder wer weiter hinten noch verborgen lag? Er sank neben Timmez auf den Boden, lehnte seinen Rücken an die Wand und begann die Pergamente zu lesen.

Ich kann mich kaum noch an die Zeit vor dem grossen Krieg erinnern. Zu schwach sind sie die Gedankenfetzen meiner Kindheit. Die Bilder wie ausgewaschen, verblasste Fotografien einer mir heute unwirklich erscheinenden Vergangenheit. Und doch gab es sie, diese Zeit! Es gab sie, die Tage an denen nur das Wetter bestimmte, ob Etwas vom Himmel fiel oder nicht. Seit der Bombenregen eingesetzt hat, ist das Wetter unser kleinstes Problem. Saurer Regen, plötzliche Stürme, Überschwemmungen... Was soll's? Spielt das eine Rolle? Nein, nicht in einer ausgebombten Stadt, wo die nächste Detonation meist nur einen Atemzug entfernt ist. Ironischer Weise gibt es da einen alten Spruch: "Der krieg tobt vor den Fenstern auf der Strasse, jeden Tag!" Welche Fenster, kann ich da nur fragen... Welche Strasse? Und toben tut der krieg auch nicht. Toben ist eine verspielte Handlung. Toben tun unschuldige Kinder. Doch meine Heimat hat längst alle Unschuld abgelegt. Wie eine falsche Haut, so ist sie abgestriffen worden. Und der Krieg... Der krieg und Unschuld sind paradoxe Widersprüche. Nein, unschuldig ist keiner.

Er stockte. Timmez hatte sich bewegt. Es war nicht das unkontrolierte Gewälze, welches er die ganze Zeit über schon machte. Er war dabei aufzuwachen. Langsam und von Stöhnen begleitet schlug er die Augen auf. "Wo bin ich?" Fragte er völlig verwirrt. Simmon erinnerte ihn an das Geschehene und berichtete dann über seine Entdeckung. "Jemand anderes? Hier unten?" Er war noch immer schwach, aber sein Gehirn schien zu arbeiten, als ob es im Gegensatz zum Rest des körpers nie in Mitleidenschaft gezogen worden wäre. "Dann müssen wir auf der Hut sein." "Es ist nur eine Möglichkeit!" Warf Simmon ein. "Sicher ist nur, dass es nicht lange her ist, dass Jemand hier war. Vielleicht geben uns die Pergamente Aufschluss darüber." Mit diesen Worten wandte er den Blick wieder auf die Unterlagen in seinen Händen und las weiter, dieses Mal laut, damit Timmez jedes Wort mitbekam:

"Unschuld... Was ist Unschuld überhaupt? Ist Unschuld die einzig wahre Reinheit? Die Unberührtheit mit sämtlichen Übel der Welt? Oder reicht es aus Niemandem Etwas böses zu tun, um unschuldig zu sein? Eigentlich spielt es kaum eine Rolle, denn egal wie man es definiert, unschuldig ist heute so oder so keiner mehr!

Selbst ein Neugeborenes, in diese Welt gelegtes Kind hat vom ersten Atemzug an die Schuld in sich. Es atmet! Jeder Atemzug des neuen Lebens nimmt einem anderen, bereits länger auf dieser Welt verweilenden Menschen einen Atemzug des alten Lebens. Ja die Ressourcen neigen sich dem Ende, aber mich interessieren die wenigsten davon. Kohle... Mir doch scheissegal, die halbe Stadt ist in ein Flammenmeer getaucht. Wozu brauche ich also einen Heizstoff? Erdöl... Wen interessiert das? Ich kämpfe jeden Tag um das nackte Überleben! Wasser, geniessbares Wasser... Das gibt es doch schon lange nicht mehr! Aber die Luft... Der Sauerstoff, ja auch diese Ressource neigt sich dem Ende! Und eben deswegen beginnt mit dem ersten Atemzug eines Neugeborenen seine Schuld an den bereits Lebenden!"

"Das ist krank!" Keuchte Timmez. "Ein Neugeborenes ist frei von jeder Schuld!" "Bist du dir da sicher?" Fauchte ihn Simmon in schrofferen Ton an, als er es beabsichtigt hatte. Auch wenn Timmez es anscheinend nicht tat, er selbst verstand die Gedankengänge des Verfassers dieses Textes. "Ich bin in diesen Krieg geboren worden, genau wie du. Und, sie dir an was aus uns geworden ist. Hatten wir jemals die Chance unschuldig zu sein?" Timmez antwortete nicht, er senkte lediglich den Blick, als müsste er über diese Frage nachdenken. "Derjenige, der diesen Text geschrieben hat, hat recht! Mit unserem ersten Atemzug haben wir unser Schicksal bestimmt. Wir nehmen anderen das Leben. Dies taten wir schon, als wir ihnen kostbaren Sauerstoff wegatmeten!" Timmez schien widersprechen zu wollen, doch bevor es Etwas sagen konnte fuhr Simmon ihn an: "Und jetzt schweig! Hier steht noch mehr. Bisher haben wir noch keinen Hinweis darauf, wer diese Person ist und wo sie sich jetzt aufhält." Timmez schwieg, er hatte begriffen, dass es hier und jetzt keinen Sinn hatte eine Diskussion führen zu wollen. Schon gar nicht, wenn es sich um eine ethische Grundsatzdiskussion handeln würde. Und er hatte nicht vergessen, was mit dem letzten Mann passiert war, der meinte sich mit Worten mit Simmon messen und sich gegen ihn auflehnen zu können. Nein, er würde nie vergessen wie sein Führer seinen Kollegen Dwarf niedergemetzelt, ihn mit seinem eigenen Arm zu Tode geprügelt hatte. Niemals...

Simmon schien seine Gedanken fast lesen zu können, denn er blickte Timmez aus scharfen Augen an, die mehr sagten als tausend Worte. Sie blickten sich nur Sekundenbruchteile direkt in die Augen, doch es war ein Kampf. Ein Kampf ausgefochten mit Blicken. Simmon hatte grösste Mühe nicht einfach auf Timmez loszugehen und ihn die Kehle durchzuschneiden, so sehr war seine Wut gestiegen. Doch Timmez schien dieses zu merken, sofort riss er den Kopf zur Seite und fixierte die Pergamente. "Dann lass uns in Erfahrung bringen, was hier geschehen ist." Sagte er in sehr ruhigem Ton. Simmon, eben noch kurz davor die Geduld entgültig zu verlieren, schien aus seiner Wut gerissen und beruhigte sich schlagartig. Er blickte zwar immer noch feindselig, aber Timmez hatte recht, es hatte keinen Sinn sich jetzt gegenseitig fertig zu machen, es gab Prioritäten. Also las er weiter vor:

"Unschuld... Pah, das ich nicht lache! Sie ist Relikt der Vergangenheit. Aber ich verliere mich in Belanglosigkeiten... Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, die Zeit vor dem Bombenregen...

Ich sehe, wie erwähnt, immer wieder Bilder dieser Zeit, doch scheinen sie unwirklich. So sehr in die Ferne gerückt, dass sie kaum mehr als Fetzen von Eindrücken sind, die wohl mal Erinnerungen waren. Ich sehe mich, mit meinem kleinen Bruder, sorglos im Garten unseres Elternhauses spielen. Ich sehe mich lachen, sehe mich glücklich. Sehe meine Eltern - meinen Vater und meine geliebte Mutter. Sehe meine Geschwister - meinen kleinen Bruder und meine ältere Schwester, die wie eine zweite Mutter für mich war. Ich sehe meine Familie auf diesen farblos wirkenden Bildern der Vergangenheit. Und heute? Sie sind alle tot! Der Krieg hat viele Leiber zu Grabe getragen, doch warum musste er meine Familie holen? Warum sie alle? Alle ausser mir... Warum riss er mir das Herz aus dem Körper, nur so weit, dass ich die unendlichen Qualen des Schmerzes spüren, aber keine Erlösung im Tode finden kann? Sensemann du Sadist... Es macht dir Spass mich zu quälen, habe ich recht?

Aber mach dir keine Hoffnungen, ich werde nicht daran zugrunde gehen, diese Genugtuung gewähre ich dir nicht. Ich werde mit Stolz weiter kämpfen. Meinen Schmerz werde ich mit Würde tragen, nicht verstecken!

Dieser Krieg bringt in den Menschen das dunkelste ihrer Seele zum Vorschein... So auch in mir! Ich spüre ihn, den Blutdurst - Diese starke Gier nach Tod und Gewalt. Doch noch schaffe ich es dagegen anzugehen, ich lasse nicht zu, dass der Teufel meine Seele frisst."

Was meint der Verfasser dieser Gedanken mit der Zeit vor dem Bombenregen, fragte sich Simmon. So weit er wusste, dauerte der Angriff auf die Stadt nur wenige Tage. Aber da war noch Etwas anderes. Garten? Hatte er wirklich Garten gelesen? Er überpfürte die geschriebenen Worte nochmals, aber da stand es klar und deutlich.

Er selbst war Etwas über 30 Jahre alt, und er kannte dieses Wort nur aus Erzählungen; Garten. Sicher, er kannte Plätze mit Grasflächen, er kannte Wiesen, aber ein Garten war Etwas anderes. Ein Garten hatte Blumen, ein Garten hatte Frieden, hatte Sicherheit und Geborgenheit. Meinte der Verfasser wirklich die Art von Garten, die Simmon aus den alten Erzählungen kannte? Oder war es nur eine Metapher für Etwas anderes? Nein, er musste es so meinen. Da stand es doch, gespielt im Garten des Elternhauses. Wie lange mag es zuwückliegen, dass so Etwas in dieser Stadt möglich war? Und wie alt mag der Verfasser dann sein? Ihm fuhren hunderte kleine Häärchen im Nacken nach oben, er bekam eine Gänsehaut. Timmez schien den Worten, die Simmon so durcheinander brachten keine Aufmerksamkeit geschenkt zu haben, denn obwohl Simmon nur kurz, vielleicht zwei, drei Sekunden für seine Gedankengänge brauchte, so stiess ihn Timmez an: "Was ist? Lies weiter!" Simmon senkte ungläubig den Kopf, aber er las tatsächlich weiter:

"Ich bin ganz sicher nicht unschuldig, auch ich habe getötet... Doch ich habe es nie genossen! Es war jedes Mal Notwehr, der Kampf ums blanke Überleben. Doch merke ich, wie ich abstumpfe, wie die Gier in mir immer stärker wird. Wie lange wird es dauern, bis ich ihr erliege? Ich kämpfe... Und meine Seele bekommt er nicht, der Teufel... Ich wiederhole mich.

Es fällt mir schwer einen klaren Gedanken zu fassen, ich pendle zwischen den Bildern meiner, an sich recht glücklichen, Kindheit und den Blutbildern des Alltags. Ich weiss schon fast gar nicht mehr, worauf ich eigentlich hinauswollte. Shit, wenn doch nur dieser Lärm mal einen Augenblick verhallen würde. Stille, mehr bräuchte ich gar nicht, um zurück zu finden zu dem Punkt, von dem ich berichten möchte. Nein, es ist momentan kein Lärm um mich herum... Ausnahmsweise ist es sogar verdammt ruhig. Ich vernehme keine Bombenexplosionen, keine Schreie von Verwundeten. Ich bin hier ja auch recht abgeschottet... Es sind die Geräusche in meinem Kopf, die mich fast in den Wahnsinn treiben. In dem einen Moment bringen sie mich an den Rand der Bewusstlosigkeit, in dem anderen lassen sie mich erschrocken hochfahren. Ich höre sie... Ich höre sie alle. Kinder die ihre Eltern rufen, Frauen, die halb zerfetzt nach ihren Söhnen und Töchtern suchen, Verwundete, schwer Verwundete. Ja, ich höre sogar die Toten! Wie sie atmen, mit ihren rasselnden Körpern aus schwarzem Hass. Wie sie um die Gassen schleichen. Ich höre sie!"

Wie lange mochte der Verfasser hier drin gewesen sein? Oder was mag vorher Draussen passiert sein? Diese Fragen stellte sich Simmon immer wieder. Er konnte es förmlich spüren, wie der Wahnsinn von dem Verfasser der Zeilen mit jedem Wort mehr Besitz ergriffen haben muss. Doch was schrieb er? Er konnte die Toten atmen hören? Das ist ja fast lächerlich, aber für die Person schien es in dem Moment, wo er seine Worte aufschrieb, die Wahrheit zu sein. Und hatte nicht auch er Simmon, vorhin auf dem Trakt Geräusche vernommen? So unterschwellig, dass er sie nicht beachtet hatte, aber jetzt im Nachhinein fiel ihm auf, dass dort Etwas war. Wahrscheinlich wieder nur ein Knistern und Surren, durch den strom hervorgerufen, aber es war dort, dort unten im Trakt. Als ob Timmez seine Gedanken lesen könnte, spottete dieser plötzlich: "Tote atmen nicht! Was für eine Scheisse. Der Typ ist nicht ganz dicht!" Und dann, er schluckte kurz bevor er angespannt weiter reden konnte: "Was ist, was ist wenn dieser Psychopat noch in diesem Bunker ist? Einem solchen Menschen möchte ich nicht begegnen." Das wollte Simmon auch nicht. Vor allem aber wollte er erfahren, wie die Aufzeichnungen weitergehen, ob nicht doch noch, der bisher schmerzlichst vermisste Hinweis auf das zu Tage kommt, was hier geschehen war. Und vor allem wann.

"Es ist nahezu unerträglich, dieses explosive Gemisch, aus Bilderflut und diesen Geräuschen. Dieser Lärm in meinem Kopf, diese Bilder in meinem Bewusstsein... Wie lange schaffe ich es noch dem Teufel meine Seele zu verweigern? Wie bekomme ich die Toten und Verwundeten dazu in meinem Innern zu verstummen? Wie verdränge ich diese Bilder aus meinem inneren Auge? Und was, verdammt noch mal, was wollte ich eigentlich sagen?"

Es schien Simmon langsam, als ob sie es hier wirklich mit den Gedanken eines Verrückten zu tun hatten. Doch was hat diesen Kerl, er ging von einer männlichen Person aus, so in den Wahnsinn getrieben? Waren es wirklich nur die Erinnerungen und der Krieg selbst? War er vielleicht gefoltert worden? Oder steckte mehr dahinter als er sich ausmalen konnte?

"Es ist alles so konfus... Scheint so sinnlos. Wofür weiter kämpfen? Am Ende wird es keinen Sieger geben! Und dennoch, viele von ihnen kämpfen nur aus einem Grund: Leben! Sie wollen nur leben... So wie ich. Aber ist mein momentaner Zustand überhaupt Etwas, dass man Leben nennen kann?

So viele Fragen und keine Antwort in Sicht. Scheisse! Verfluchte Scheisse!

Es ist schon komisch... Da erzählen sie uns, dass der dritte Weltkrieg noch haarscharf vermieden werden konnte, nur damit ich kurz darauf sehe, wie meine Welt dennoch im totalen Kriegszustand zusammenbricht. Ja, sicher... Meine Welt ist nicht gross, gemessen an dem, was die Welt wohl sein mag. Aber es ist die einzige Welt die ich kenne. Ich kenne keine fernen Länder, sie interessieren mich auch nicht! Meine Welt jedenfalls ist der vollständigen Zerstörung nahe. Naja, ich werde mich jetzt nach da Draussen begeben... Mal schauen, was das Schicksal für mich bereithält. Meine Seele bekommt der Teufel jedenfalls nicht!"

Das Schriftstück war zu Ende. Simmon lies sich die letzten Sätze noch einmal durch und schrie auf: "Moment!" "Was ist denn?" Fragte Timmez aufgeregt, als er den Schock in Simmons Stimme hörte. "Er schrieb er würde sich nach Draussen begeben. Die Tinte war noch feucht, als ich die Pergamente fand. Entweder ist die Luft dort unten so feucht, und feucht war sie, dass die Tinte Ewigigkeiten nicht gänzlich trocknen würde. Oder..." "Oder was?" Fragte Timmez, der anscheinend doch nicht ganz so klar im Kopf war, wie Simmon bisher vermutet hatte. "Oder er hätte hier vorbeikommen müssen, während wir hier waren." Simmon war nicht wohl bei diesem Gedanken. Der Hauptflur verband den Trakt mit der Luke, durch die sie in diesen Bunker gelangt waren. Er selbst war die ganze Zeit auf dem Flur gewesen, hatte nur flüchtig die anderen Räume betreten. Es hätte sich Niemand an ihm vorbeischleichen können. Erneut überkam ihm eine Gänsehaut und auch Timmez wirkte nun sehr angespannt. Nicht ängstlich, aber dennoch angespannt. Plötzlich fiel Simmon noch eine dritte Möglichkeit ein. "Der Bunker könnte natürlich aber auch mehr als einen Zugang haben. Ja, das muss es sein. Es scheint mir sowieso kein gewöhnlicher Bunker zu sein. Dieser Trakt, irgendwas ist sonderbar daran. Und dann die Zellen..." "Zellen?" Unterbrach ihn Timmez. "Was für Zellen?" Simmon hatte ihm bisher nichts von den Zellen erzählt. Er hatte es völlig vergessen, zu sehr war er damit beschäftigt gewesen über seinen Fund zu berichten. "Ein Stück den Flur runter. Es sind nicht viele, vier oder fünf." "Aber wozu braucht ein Bunker Zellen?" "Ich weiss es nicht." Antwortete Simmon wahrheitsgemäss. Er hatte sich diese Frage schliesslich selbst schon gestellt. "Ich weiss es wirklich nicht. Aber ich sag doch, irgendEtwas hier stimmt nicht. Dies ist kein gewöhnlicher Bunker." "Was ist es dann?" Fragte Timmez, der den Schrecken in seinen Augen nicht gänzlich unterdrücken konnte. "Ich weiss es nicht!" Fauchte Simmon, dem die Fragerei seines Kumpanen langsam aber sicher auf die Nerven ging. Er wusste doch auch nicht mehr als Timmez. Er musste nachdenken. Ein versteckter Zugang, dicke Wände, einheitlicher Aufbau. Soweit stimmte dieser Bau mit einem Bunker überein, doch die anderen Dinge, die Zellen, der Trakt und die Notizen eines scheinbar Wahnsinnigen. Was war das hier? Wo waren sie gelandet? Er brauchte Zeit um Schlüsse zu ziehen, Zeit in der Timmez ihn nicht ablenken würde. "Ich werde mich noch ein Wenig umsehen, warte hier!" Sagte er zu Timmez und ging los, ohne auf eine Reaktion zu warten. Sein erster Gedanke war es wieder zu dem Trakt zu gehen. Doch irgendEtwas in ihm hielt ihn erstmal von dort fern. Waren es die Geräusche? War es einfach die Tatsache, dass er eine unheimliche Aura ausstrahlte? Machte er ihm gar Angst? Angst, dieses Wort kannte Simmon nie, er war niemals in einen Zustand gekommen in dem er Angst verspürt hätte. In Gedanken versunken achtete er gar nicht darauf, wo er hinging. Als er den Blick hob, war er wieder bei der Treppe angelangt, über die sie den Bunker betreten hatten. Instinktiv kletterte er sie hinauf und versuchte die Luke zu öffnen. Sie war verschlossen. Sicher, sie war ins Schloss gefallen, so gehört es sich für eine Bunkerluke, doch das war es nicht. Es gab keinen Griff, kein Drehrad... Es gab keinen Mechanismus um diese Luke von Innen zu öffnen!

Nun war alle Hoffnung darauf, dass sie nur gerade lange genug abwarten müssten, bis Timmez sich halbwegs erholt hatte, und dann den Bunker verlassen könnten, ruckartig dahingesiecht. Simmon stieg die Stufen herab und liess sich zu Fusse der Treppe auf den Boden sinken. Frust machte sich in ihm breit. Zweifel, ob es eine gute Idee gewesen war diesen Bunker, oder was immer es war, zu betreten. Er wusste die Antwort, es war keine gute Idee. Doch nun war es zu spät. Über diese Luke würden sie nur ins Freie gelangen, wenn sie von Aussen geöffnet werden würde. Und Draussen war jeder ihr Feind, keiner, sollte überhaupt Jemand die Luke entdecken, würde sie am Leben lassen.

Er versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Sie mussten, ja sie mussten diesen zweiten Zugang finden, wenn es ihn denn gab. Denn in dem Moment, in dem Simmon die Luke verzweifelt zu öffnen versucht hatte und begriff, dass es ohne Hoffnung auf Erfolg blieb, stiess er auf eine weitere Möglichkeit, was mit dem vermeintlich Wahnsinnigen passiert sein könnte. Er befand sich wahrscheinlich noch im Gebäude. Und wenn es keinen zweiten Ausgang gab, dann war er vermutlich nicht mehr am Leben. Etwas oder Jemand müsste ihn dann aber getötet und weggeschafft haben, kurz bevor Simmon den Trakt betreten hatte. Viel Zeit konnte nicht vergangen sein. Diese Gedanken machten ihm Angst. War er schon nicht sonderlich von der Vorstellung begeistert, dass ein Wahnsinniger mir ihnen gemeinsam im selben Gebäude sein könnte - auf diese Idee war er schon früher gekommen, bliess sie aber aus seinem Bewusstsein - so gefiel ihm der Gedanke es könnte Jemand noch gefährlicheres, oder Etwas gefährlicheres mit ihnen zusammen hier unten sein, noch weniger. Egal wie es nun war, er konnte nur Theorien austellen. Fakt aber blieb, er müsste sich, wenn er nach einem zweiten Zugang, einem möglichen Ausgang suchen und aus dieser Falle entkommen wollte, trotz aller Abneigung gegen diesen Ort, doch erneut zum Trakt begeben. Die Lösung des Rätsels, sie musste Etwas mit diesem merkwürdigen Flur zu tun haben, das spürte er.

Er war so in Gedanken versunken, dass es fast einem Schlaf gleichkam. Im Prinzip konnte Simmon selbst nicht einmal sagen, ob er nicht vielleicht tatsächlich geschlafen hatte. Jedenfalls schien mindestens eine Stunde vergangen zu sein, seit er Timmez so überstürzt zurück gelassen hatte, um seine Gedanken zu sortieren. Als er wieder im Krankenzimmer ankam, lag Timmez noch immer auf der Liege. Sein Zustand schien sich nicht gerade verbessert zu haben, so dass Simmon sich dazu entschied doch nicht sofort mit seinem verwundeten Kollegen aufzubrechen. Statdessen forderte er Timmez auf noch ein oder zwei Stünchen zu schlafen. "Ich werde in der Zeit Wache halten, nur für alle Fälle!" Unterdrückte er den Versuch von Timmez der Aufforderung zu widersprechen und trat vor die Tür auf den Flur.

Dieses ganze Gebäude drückte mehr und mehr auf Simmons Stimmung und er konnte nicht einmal genau sagen warum. Er fühlte sich hier einfach nicht wohl. Er wusste nicht, was sie noch erwarten würde, wenn sie gemeinsam den Trakt weiter unten des Flures aufsuchen würden. Er wusste nicht, ob sie jemals wieder lebend aus diesem Grab herauskommen würden. Grab? Simmon erschrak selbst, als er bemerkte welchen Begriff er in Gedanken für den, einem Bunker ähnelnden, Bau verwendet hatte. Ja, nicht nur einmal kam ihm die Vorahnung, dass er sich genau dazu entwickeln würde, dieser Ort. Er streifte den Gedanken ab, wie schmutzige Kleidung, Etwas, mit dem man sich nicht gerne befasst, dass man aber reinigen muss, bevor man es wieder verwenden kann. Ein Schatten huschte durch sein Blickfeld. Erschrocken blickte er auf. War da Etwas gewesen? Er hatte nicht sehr aufmerksam Wache gehalten, so dass es durchaus hätte sein können, dass sich Jemand oder Etwas genähert haben könnte, ohne dass er es mitbekam. Wieder fuhr es ihm kalt den Rücken herunter. Er konzentrierte sich, strengte seine Augen an, um mögliche Bewegungen in der Dunkelheit, ausserhalb des Scheins der Fackel in seiner Hand, wahrzunehmen. Er registrierte keine Bewegungen. Aber irgendEtwas war eben doch dort. Hatte er es sich nur eingebildet? Spielte sein angespannter Körper ihm einen Streich? Führten ihn seine Sinne in die Irre? Es gab ja zumindest die Möglichkeit, dass sie hier unten nicht die einzigen wären. Aber wenn dort vor ihm irgendwas gewesen wäre, dann hätte er es doch jetzt sehen müssen. Die Räume, er dachte schlagartig an die anderen vom Flur abgehenden Räume. War da drin Jemand verborgen? Er entschied sich dem nachzugehen. Er leuchtete die Räume dieses mal weit ordentlicher aus, als bei der allerersten Begutachtung. Seine Waffe stets im Anschlag. Doch er fand nichts. Wenn sich Etwas an ihn und seinen Kameraden angeschlichen hatte, so musste es eben so schnell, wie es gekommen war, und ebenso unauffällig, auch wieder verschwunden sein. Hier unten war Niemand ausser ihm und Timmez. Erleichtert atmete er auf.

Die nächste Zeit verlief ruhig, zu ruhig für seinen Geschmack. Eine eisige stille lag auf dem Gang. Das einzige Geräusch, welches er vernahm war ein, eher als Röcheln zu bezeichnendes, Schnarchen, das von Timmez ausging. Es wurde Zeit. Er machte sich daran Timmez zu wecken und berichtete ihm nun, da dieser etwas Schlaf und damit ein wenig Kraft zu sich genommen hatte, was er an der Luke entdeckt hatte.

Timmez wurde leichenblass, als er hörte, dass der Einstieg wirklich lediglich das war, ein Ausstsieg über diese Luke aber nicht möglich wäre. "Und jetzt? Was machen wir jetzt?" Fragte er und konnte seiner Stimme einen verzweifelten Klang nicht nehmen. "Der Trakt!" Antwortete Simmon knapp. "Wenn es einen zweiten Zugang gibt, einen möglichen Ausgang, und es muss ihn einfach geben, dann finden wir ihn dort irgendwo!" "Und was ist, wenn..." Timmez schluckte schwer. "Wenn was?" Scheuchte ihn Simmon. "Was ist, wenn es keinen Ausgang gibt? Was ist, wenn diese gesamte Anlage ein einziges Gefängnis darstellt?" "Schwachsinn!" Wertete Simmon ab. Doch er war sich gar nicht sicher, ob es wirklich so abwegig war. "Wozu gibt es dann Zellen hier? Wenn dies ein einziges grosses Gefängnis wäre, wären wohl kaum Zellen nötig!" Und, doch, er konnte sich gleich mehrere Situationen vorstellen, in denen Zellen innerhalb einer einzigen riesigen Zelle Sinn machen würden. Es könnte doch sein, dass die besonders schlimmen Fälle auf diese Art abgeschottet von den anderen verweilen sollten. Es könnte auch sein, dass die Zellen, keine Zellen, sondernd eher Käfige darstellten. Käfige für gefährliche Tiere, die nach belieben auf die Insassen dieses Gemäuers losgelassen worden sind. Und doch, wäre dies hier wirklich als einziges grosses Gefängnis angelegt worden, so wurde es nie als solches benutzt, oder zumindest sehr lange nicht. Denn Simmon kannte das Verhalten eingesperrter Leute, sie waren agressiv und gingen aueinander los. Doch hier war nicht die geringste Spur eines Kampfes, weder Menschen untereinander, noch Tiere gegen Menschen, zu entdecken. Es war eigentlich auch egal. Sie mussten es versuchen, sie mussten versuchen einen Ausgang zu finden, sonst würden sie hier unten jämmerlich zu Grunde gehen. Sie würden verhungern. Wie auf das Stichwort begann Simmons Magen zu knurren und ihm fiel der so lange unterdrückte Wunsch nach Nahrung ein. Einige wenige Vorräte hatten sie in ihren Rucksäcken, es wäre das Beste sie würden erst einmal etwas Essen zu sich nehmen, bevor sie sich auf die Suche nach dem Ausgang machen würden.

Nachdem der grösste Hunger gestillt war, durchsuchte Simmon das Krankenzimmer. Und tatsächlich fand er das was er gesucht hatte: Krücken! Timmez würde mit ihnen weitaus besser und sicherer vorankommen als ohne.

Sie gingen also ihres Weges. Es gab noch einmal einen Moment, in dem Simmon das Gefühl hatte, Irgendetwas wäre durch sein Blickfeld gehuscht. Und wieder konnte er nichts Lebendes ausser sich selbst und Timmez ausmachen. Das Licht der Fackel warf diffuse Schatten auf die Wände und die Türen. Sie sahen schon vom weiten, welche Tür zu dem Trakt führte, denn das Licht in dem Raum, mit der abstrakten Architektur brannte noch.

Hatte simmon schon kein gutes Gefühl gehabt, als er erstmalig den Trakt betreten hatte, so steigerte sich dieses ungute Gefühl zu etwas grösserem, immer mehr, mit jedem Schritt, den sie nun gemeinsam über den rätselhaften Flur gingen. "Was ist das?" Fragte Timmez entsetzt, als sie den zweiten Raum betraten. Vor ihnen erstreckte sich auf dem Boden, übergehend auf die Wände eine rötliche Zeichnung. Simmon betätigte das Licht in dem Raum und sie sahen, dass es sich um ein Pentagramm handelte, welches an den Kanten des Sternähnlichen Bildes in filigranen Linien weitergeführt wurde. Es hatte Etwas von einem Tribal, Bildnissen, die auf altgotischen Zeichen basieren und mit der Zeit immer mehr an Bedeutungen verloren, bevor sie gänzlich nur noch den Fantasien der Menschen entsprungene Zeichnungen waren. Und es hatte, vornehmlich durch das Pentagramm in seiner Mitte, Etwas okkultes. "Ist es... Ist es eine..." "Opferstätte?" Simmon riss Timmez die Frage förmlich aus dem Mund. "Ja ich denke schon, dass es Etwas in der Art ist." "Das meine ich nicht!" Brach Timmez erbost hervor. "Ich wollte wissen, ob das Blut ist." Tatsächlich bemerkte Simmon erst jetzt, nachdem sein Kumpane diese Frage gestellt hatte, dass es sich bei der Flüssigkeit, mit der dieses Bildniss auf den Stein getragen wurde, tatsächlich um Blut handeln könnte. Er unterzog es einer ausgiebigen Untersuchung und kam zu dem Ergebnis, dass sein Freund recht hatte. Es war Blut! "Ja, es scheint wirklich Blut zu sein. Wenn ich mich nicht arg täusche, sogar menschliches!" Er konnte das Zittern in seiner Stimme nicht gänzlich unterdrücken, so dass Timmez bemerkte wie sehr sein Kollege von diesem Umstand erschrocken war. Es schien Timmez, als ob Simmon ihm noch Irgendetwas verheimlichen würde. Als ob er mehr wusste, als er zugab, oder zumindest mehr vermutete. Er wusste auch, dass, wenn Simmon es für menschliches Blut hielt, es das auch zu einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit wirklich war. Simmon hatte wahrhaft genug Menschen getötet, damit sich der Geruch, den Blut mit sich trägt, so sehr in sein Gehirn gebrannt hatte, dass er schon fast die Blutgruppe bestimmen konnte, wenn er sich nur lange genug darauf konzentrierte. Nachdem sie ihren Blick von dem Pentagramm lösen konnten, liessen sie ihren Blick an der Wand entlang gleiten um dem Rest des Raumes seine Geheimnisse zu entlocken. Der Raum war nicht sonderlich gross, vielleicht acht oder neun Quadratmeter und ausser der Zeichnung schien es hier drin nichts weiter zu geben, dass ihrer Aufmerksam bedurfte. "Sieh da!" Timmez hatte Etwas entdeckt. "Da vorne an der Wand." Er deutete mit dem Finger an die linke Wand. Dort hing Etwas metallisches. Es waren zwei Ringe, Handfesseln, die knapp unter der Decke in den Stein geschraubt waren. Simmon verdrängte die Bilder, die sich schlagartig in sein Bewusstsein schlichen mit grösster Mühe. Er blickte Timmez an und merkte, dass es auch seinen verkrüppelten Kameraden nicht anders erging als ihm selbst. Bilder von Folterungsszenen schienen auf sie einzuprasseln, augenblicklich, nachdem sie die Art des Gegenstandes erkannt hatten, der sich mit der Wand paarte.

Auf einmal durchbrach ein Geräusch die Stille. Irgendetwas schepperte ziemlich laut. Erschrocken fuhren die beiden zusammen. Das Geräusch kam eindeutig aus der Nähe. Sie warfen sich kurze Blicke zu, dann stürmte Simmon auf den Gang, mit dem finger am Abzug seiner Waffe. Nur schwach konnte er weiter den Gang runter die Umrisse einer Gestalt erkennen. "Wir sind nicht allein." Flüsterte er Timmez zu. "Sei auf der Hut!" Er warf die Fackel in den Gang hinein und was er erblickte, liess ihn nach Luft keuchen. Seine Pupillen weiteten sich extrem, sein Herz raste, sämtliche Haare an seinem Körper standen ihm zu Berge. Nachdem er den ersten Schrecken überwunden hatte, musste er sich übergeben. Er erbrach sich mitten auf dem Flur. Seine Hände zitterten, er war kaum noch in der Lage seine Waffe zu halten. Timmez, der nur langsam aus dem Raum kam, erblickte seinen Freund und blickte dann in die gleiche Richtung wie er. Seine Reaktion fiel ähnlich aus, nur dass er seinen Mageninhalt für sich behielt. Sie standen zwar nur einige Sekunden so da, doch kam sie ihnen vor wie eine Ewigkeit. Tausende Gedanken schossen ihnen durch die Köpfe, wühlten sich durch ihre Schädel, fuhren wie Würmer über- und untereinander hindurch. Keiner von ihnen war in der Lage in diesem Moment einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn die Befehlsgewalt über ihre Körper zurück zu erlangen. Erst ein erneutes Scheppern riss sie aus ihrer Trance. Immer noch nicht bei klarem Verstand war es vielmehr ein Instinkt, denn eine überlegte Reaktion, dass Simmon das Feuer eröffnete. Der Widerhall des Mündungsfeuers drang so markerschütternd in ihre Ohren, dass sie für eine kurze Ewigkeit taub waren. Doch nicht taub genug um den Aufschrei zu hören, den die Gestalt vor ihnen von sich gab. Der Schrei hatte nichts menschliches mehr und doch hatte es eine fast menschliche Gestalt.

Die Kreatur, die sich ihnen gezeigt hatte, war definitiv kein Mensch, schien aber irgendwie humanen Ursprung zu haben. Sie war hoch gewachsen, ein gutes Stück über zwei Meter gross, hatte einen unproportional kleinen Kopf, war über und über mit Muskelgewebe versehen und an einigen Stellen blinkte Metall durch die Haut hervor. Das Wesen hatte, bevor es angeschossen worden war, mit einem Hammer gegen Blechfässer geschlagen, dies hatte das blechernde Scheppern erzeugt. Nun trat Blut an den Stellen hervor, an denen Simmon das Wesen getroffen hatte. Es lief den deformierten Körper herunter, tropfte auf den Boden und sammelte sich dort zu einem kleinen roten See. Das Monster, oder wie man es bezeichnen möchte, schien heftigen Schmerz zu erleiden, denn der durchdringende Schrei hielt immer noch an.

Simmon und sein Gefolgsmann starrten die Kreatur an, waren aber immer noch nicht wirklich in der Lage klar zu denken. Zu sehr sass der Schock, über das was sie sahen, noch in ihren Gliedern. Die verwundete Gestalt verstummte nach einer endlos scheinenden Weile. Sie blickte Simmon nun genau in die Augen und er konnte es auf die Entfernung zwar nicht sehen, doch spürte er, dass die Augen Angst ausstrahlten. Das ihnen gegenüber stehende Wesen hatte den Hammer fallen lassen, als die erste Kugel in ihren Brustkorb eingeschlagen war. Nun schaute es verwirrt in seine, Simmons, Richtung. Die Anspannung auf beiden Seiten war gross, sehr gross. Es schien als wüssten weder die Kreatur, noch die beiden Raubritter, was sie erwarten würde, was dieses Zusammentreffen bedeutete. Nur eines wussten sie alle: Sie waren nicht allein. Das Wesen, diese deformierte Kreatur, schien Etwas sagen zu wollen. Es öffnete die Lippen, brachte aber nur ein Grunzen hervor. Es strengte sich mit all seinen Sinnen und all seiner Kraft an und brachte letztendlich einige gestotterte von Grunzlauten untermalte Worte hervor: "Fr-Freund... Schmer-zen... he-hel-fen."

Dieser Bunker verbarg ein dunkles Geheimnis, bei dessen Ergründung alle Teilnehmer noch eine wichtige Rolle spielen würden. Und dies war erst der Anfang.



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